Community Organizing wurde in den 1930er Jahren in den USA entwickelt und hat vielen Menschen gezeigt, dass sie gemeinsam etwas verändern können.
Auch in Europa wird dieser Ansatz in benachteiligten Stadtteilen angewandt. Wie in der Pionierzeit der Gemeinwesenarbeit sind die AkteurInnen selten bezahlte Organizer oder GemeinwesenarbeiterInnen, sondern engagierte Bürgerinnen und Bürger, die Prinzipien des Organisierens von Menschen und Erringen von Erfolgen verstanden haben und anwenden. Dazu eines von vielen Beispielen aus Deutschland – durchaus aktuell:
Community-Organizing-Prinzipien, angewandt in Hamburg Wilhelmsburg
Wilhelmsburg hat in Hamburg keinen guten Ruf: Durchfahrtschneisen von Bahn und Autobahnen, Industrie, viel Lärm, viele Abgase. Und die Menschen sind im Durchschnitt ärmer, aber auch jünger und internationaler. Ob man dort wirklich wohnen kann oder weite Teile nicht besser Hafen- oder Industriegebiet werden sollten, stand vor allem nach der verheerenden Flut im Jahr 1962 immer wieder zur Diskussion. Aber eine langjährige – von Parteien unabhängige und von niemandem bezahlte – Bewegung von WilhelmsburgerInnen hat sich immer wieder gewehrt und erfolgreich für Verbesserungen gekämpft und Stolz gezeigt. Diese Bürgerbewegung hat auch mit Hilfe eines Community-Organizers aus den USA Elemente übernommen wie z.B. strategische Arbeit für Erfolge, Selbstorganisation der Bürgerinnen und Bürger, Unabhängigkeit, Orientierung an Eigeninteressen und gemeinsamen Werten, sowie die Kultur von persönlich-öffentlichen Beziehungen.
Dazu gehören auch fantasievolle Aktionen ohne Scheu vor Konflikten und zugleich kooperative Verhandlungen. Wie ist der gegenwärtige Stand im Jahr 2009?
Immer wieder sonntags, der Lage entsprechend pünktlich fünf vor zwölf gibt es etwas Besonderes: von einer Beerdigungsfeier über einen Krimi, demonstrative Straßensperrungen, Beach-Parties und eine Auswanderung hin zur verantwortlichen Behörde und damit Aktionen, die die Öffentlichkeit auf die Folgen der Autobahnprojekte hinweisen. Zugleich überraschen solche Aktionen die Verantwortlichen und fordern sie zur Auseinandersetzung heraus. Lebendige Bündnisse, auch über Stadtteilgrenzen hinweg, sind geschmiedet. Immer mehr Menschen übernehmen verantwortliche Rollen. Die Bürgerinnen und Bürger haben den Entscheidern einen Beteiligungsprozess aufgezwungen und versuchen, sich dort nicht in die Rolle der zu Belehrenden degradieren zu lassen. Scheinbar feststehende Entscheidungen stehen plötzlich wieder auf dem Prüfstand. Das Wichtigste: Aus BewohnerInnen, die sich zusammen mit ihrem Stadtteil an den Rand geschoben gefühlt haben, wird mehr und mehr eine selbstbewusste und handlungsfähige Community.
Über die brennenden Themen und die grundlegenden Werte braucht es eine Verständigung und es braucht Respekt vor der Vielfalt der Menschen. Es braucht auch die Fähigkeit, mit anders Denkenden Bündnisse zu schmieden, um konkrete Erfolge zu erreichen.
Michael Rothschuh, Hamburg:
Community Organizing in diesem Sinne entwickelt sich oft von selbst. Aber es stößt an vielfältige Klippen. Wir wissen oft zu wenig, was den anderen wirklich antreibt, weil wir zu wenig zuhören und auf die eigenen Ideen und Vorstellungen fixiert sind. Einige Wenige werden mit Aufgaben überhäuft, weil vermeintlich nur sie dies könnten. Wir setzen Ziele, die wir nicht erreichen können und produzieren uns und anderen damit selbst Enttäuschung. Deshalb ist es gut, wenn es Gemeinwesenarbeiterinnen und Gemeinwesenarbeiter gibt, die diesen Prozess aktiv begleiten und die Prinzipien und Arbeitsweisen des Community Organizing gelernt haben. Damit sich z.B. mehr Menschen Sprecherrollen zutrauen, damit wir gezielter Strategien und Taktiken entwickeln, damit wir in der Reflexion aus Erfolgen und Misserfolgen lernen. Und damit wir uns immer wieder vergewissern, welche grundlegenden Werte uns antreiben.
Ausschnitt aus dem Video: Renate Schnee (Regie), 2010: Gemeinwesenarbeit, deutschland • schweiz • österreich, Hrg. von der Sektion Gemeinwesenarbeit der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit, Abschnitt zu Community Organizing und dem Beispiel Wilhelmsburg (Autor des Abschnittes Rothschuh-Datei öffnet langsam)
4.Juli 2010: Bürgerinnen und Bürger Wilhelmsburgs erobern ihre Ufer! – Beispielhafte Darstellung
2005 hatten wir zusammen mit Paul Cromwell ein Ziel ausgewählt, das einen schnellen Erfolg bringen sollte: Der Zoll-Zaun des Freihafens (quasi Zollausland für die EU), der Wilhelmsburg von einem zu einem wunderschönen See gewordenen Hafen trennt, sollte Öffnungen bekommen, damit die Menschen die Ufer erleben können. Es hat länger gebraucht, bis wir es erreicht haben, aber seit dem 4.Juli 2010 ist es nun soweit:
Der Zollzaun ist offen, der Spreehafen für die Bewohner durch mehrere Öffnungen zugänglich:
Zugleich war diese Öffnung des Zollzauns ein Schlüsselprojekt zu einem noch größeren Thema: Über dem Spreehafen und dicht an den Wohngebieten sollte eine Autobahn gebaut werden, die schon seit 1939 geplant wurde und die es seit 1979 erbitterten Protest der BewohnerInnen gab. Diese Planungen sind jetzt aufgegeben – allerdings: nun plant die Behörde eine Autobahn weiter südlich auf der Insel. Und auch gegen diese Planungen werden die BürgerInnen erfolgreich Widerstand leisten.