Broad-Based Organizing in Germany?

von Peter Szynka

Die Fragen zur Übertragbarkeit US-Amerikanischer Organisationsmethoden, lassen mich insbesondere vor dem Hintergrund des schrumfenden Sozialstaates in Deutschland nicht mehr los. Hier geht es insbesondere um sogenanntes Broad-Based-Organizing, also der Organisation der Organisationen, oder zumindest um deren Kooperation im Hinblick auf ein gemeinsam erkanntes Ziel.

Mit dem Stichwort vom „schrumpfenden Sozialstaat“ wäre ich bereits bei einer ersten Unterscheidung angelangt, die bei Übertragungsversuchen zu berücksichtigen ist. Es gab und es gibt in Deutschland eine soziale Sicherung, die in den Vereinigten Staaten so niemals erreicht worden ist. Was dort angestrebt wird, droht hier verloren zu gehen. Es gibt hier einen Gewerkschaftsbund, es gibt Pflichtversicherungen, Mindestlöhne und es gibt halbstaatliche und nichtstaatliche Organisationen, die selbstverwaltet und bisher noch im Sozialgesetzbuch verankert sind.

Es gibt, das ist der zweite Punkt, mithin Organisationen, die drei bis viermal so alt sind wie beispielsweise die Industrial-Area-Foundation. Die deutschen Organisationen haben ihre Erfolge, von denen sie zum Teil heute noch zehren, bereits vor dem ersten Weltkrieg oder zwischen den Weltkriegen errungen. Die ursprünglichen Mitgliederstrukturen werden inzwischen vielfach überlagert von einer relativ großen Anzahl bezahlter Profis. Diese kümmern sich vor allem um den Selbsterhalt der Organisation, das Geschäft ist wichtiger geworden als die Artikulation der Interessen einer Basis. Hierdurch sind neue Abhängigkeiten entstanden und die Professionalisierung hat nicht nur zu einer Rationalisierung der Arbeit geführt, sondern auch zu einer Art Pfründewirtschaft. Geblieben sind häufig „ehrenamtliche“ Aufsichtsgremien. Wenn man für Organisationen ein Lebensalter konstatieren kann, so haben wir hier, wieder verglichen mit der Industrial-Area-Foundation, relativ alte Systeme vor uns. Sie verbinden, wie das bei Greisen eben ist, Erfahrung mit Gewohnheit und Weisheit mit Gedächtnisschwund.

Damit wären wir bei einem dritten Punkt. Es gibt in Deutschland eine besondere Art des Traditionsverlustes. Diese kollektive Amnesie wurde durch den Mißbrauch von Organisationsmethoden durch die Nationalsozialisten verursacht. Dies merkt man, wenn man Begriffe wie power, leadership, victory oder enemy übersetzen will. Macht ist für normale Leute nicht erstrebenswert, sondern eher suspekt („keine Macht für niemand!“). Der Führer aber ist der größte Feind und steckt möglicherweise in uns allen und sogar in mir drin. Kollektive Begeisterung ist in Deutschland verdächtig, vor allem, wenn sie spontan entsteht. Wenn sie herbeigeführt wurde, fragt man von wem, weil das nämlich vielleicht schon kriminell ist. Von Führern versprochene Siege machen Angst und mobilisieren eher Skepsis, Widerstand und Sorge um die Opfer als aktive Unterstützung. Demokratie und Mitbestimmung ist in den Betrieben, den Vereinen und Familien immer noch nicht selbstverständlich. Es gibt zuwenig Anknüpfung an die eigene demokratischen und emanzipativen Traditionen. Das gab es „1968“ und „vor dem Krieg“ und „wir haben doch gesehen, wohin das führt“. Es gibt keine Kultur der Partizipation, aber all das macht Organizing nur noch notwendiger.
Der vierte Punkt ist der: es gibt bereits machtvolle Organisationen von Organisationen. Auch sie sind verglichen mit den amerikanischen Organisationen sehr alt und haben alle Eigenschaften, die ich oben genannt habe. Was ihnen fehlt, ist eine politisch sprachfähige Basis, eine starke Mitgliederstruktur und ausreichende Unterstützung in der Bevölkerung. Es gibt den Gewerkschaftsbund, es gibt sogar noch eine verbriefte Tarifautonomie. Weiterhin gibt es Kirchenbünde, Dachverbände, Spitzenverbände, Bundesarbeitsgemeinschaften und Landesarbeitsgemeinschaften der freien Wohlfahrtspflege, dazu noch Fachverbände aller Art, die Einzelorganisationen beraten, beeinflussen und vertreten. Deutschland ist ein Verbändestaat. Es gibt gesetzlich geregelte Mitwirkungsrechte. Viele Verbände befinden sich aber zur Zeit in der Defensive. Sie haben sich von Mitgliederorganisationen zu Auftragnehmern staatlich finanzierter Programme gewandelt und auf diese Weise abhängig gemacht. Neuerdings gelten sie als ineffektiv, selbstherrlich, träge und verschwenderisch. Die neoliberalen Politiker betrachten diese Verbände mitsamt ihrer verbliebenen Macht und ihren ewigen Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit nur noch als Standortnachteil im Kampf um Anteile am globalen Markt.

Versuche Broad-Based-Organizing in die alte Welt zu übertragen, müssen diese Strukturen kennen und diese Geschichte berücksichtigen. Es hat etwas von der Arbeit mit Kranken oder Ertrinkenden. Obwohl sie in großen Schwierigkeiten sind, haben sie die Möglichkeit, die neuen Therapien, die ja eigentlich alte Hausrezepte sind, abzulehnen oder sogar die Kraft, ihre wohlmeinenden Helfer mit in die Tiefe der Bedeutungslosigkeit zu ziehen. Es wird darauf ankommen, diese Strukturen zu verstehen. Schwer genug, da es vergleichbares in Amerika nicht gegeben hat. Weiter muß die Erfahrung, die in diesen Strukturen steckt, genutzt werden und die bestehenden Organisationen müssen wieder auf ihre verlorenen Traditionen zurückgeführt werden, mit ihren alten Idealismen versöhnt und neu mit ihrer Basis verknüpft werden. Falsch wäre es, eine neue Organisation der Organisationen neben oder zwischen die bestehenden zu setzen.

Schwierig wird es, die bestehenden Verbände und Einrichtungen in ihren politisch aktiven Teilen vorsichtig aus der Abhängigkeit von staatlichen Finanzierungsprogrammen zu lösen. Die Aufgabe ist, sie (nicht nur finanziell) zu stärken ohne sie (politisch) zu schwächen. Insbesondere im kirchlichen Bereich ist die staatskirchenrechtliche Problematik zu beachten. Es gibt zahlreiche Verträge, Konkordate und fortbestehende Privilegien. Im ehemals preußischen Teil war der Kaiser gleichzeitig der „Boß“ der protestantischen Kirche. Diese Verbindung von Thron und Altar wurde im Zusammenhang mit den damals neu entstehenden und jetzt zum Teil gichtbrüchigen Organisationen, Verbänden, Parteien und Gewerkschaften teilweise aufgelöst. Inzwischen sind sogar erste gemeinsame Papiere der Gewerkschaften und der Kirchen verabschiedet worden! Anstatt der „Sunken Glory“ staatskirchlicher Symbiose und gottgewollter Monarchie nachzutrauern oder den überschaubaren Verhältnissen einer simplen Klassenökonomie nachzuweinen, haben einige erkannt, daß es Zeit ist, aus der Lethargie zu erwachen und eine Koalition für sozialen Ausgleich und Gerechtigkeit zu bilden. Schön wäre auch eine mindestens transatlantlantischer Kooperation. Uns droht in Europa und in den einzelnen europäischen Ländern eine je eigene Art gesellschaftspolitischer Abgeschlossenheit. Es ist so, als wollte jedes Land mit seinem ganz spezifischen Leiden an den Folgen des „globalen Marktes“ allein sein und fertig werden. Es ist, als ob es sogar eine Konkurrenz gibt um die Frage: „wer leidet am meisten?“.

Aber gerade deshalb sollten wir, auch über die Grenzen hinweg, an eine Organisation denken, die Organisationen Mut zuspricht in harter Zeit und sie fit macht. Fit zur Kooperation mit anderen. Eine ängstliche Organisation wird nicht kooperieren. Weiter sollten wir an eine Kooperation der Organisationen auf ein gemeinsames Ziel hin denken. Das Ziel ist den Sozialstaat zu erhalten. Auf diese Weise entsteht dann eine Organisation der Organisationen wie von selbst. Auf jeden Fall muß und kann aber der transatlantischen Arbeitsgemeinschaft neoliberaler Wirtschaftspolitiker eine ebenso transatlantische Kooperation sozialer Verantwortung entgegengestellt werden.

Edewecht, 29. August 1996