von Lothar Stock
„In der Bundesrepublik ist bislang nicht der Versuch unternommen worden, Bürger-Organisationen aufzubauen. … Ob jedoch Bürger-Organisationen hier überflüssig sind, wage ich zu bezweifeln, denn es kann in einer Demokratie nie zuviel Druck von unten auf die da oben ausgeübt werden“ schrieb Karl-Klaus Rabe 1984 im Vorwort der 1. Auflage der von ihm unter dem Titel „Anleitung zum Mächtigsein“ herausgegebenen Schriften Saul D. Alinskys [S. 16, 1. Aufl.]).
In der Zwischenzeit ist viel geschehen. Mit dem Zusammenbruch der real-sozialistischen Staatensysteme in Osteuropa haben sich die politischen Machtkonstellationen auf internationaler Ebene grundlegend verändert. Den Deutschen bescherte der Untergang der DDR die „Wiedervereinigung“. Infolge der Übernahme von Regierungsverantwortung von Bündnis 90/Die GRÜNEN, zunächst in einzelnen Kommunen und Ländern, seit Herbst 1998 gar auf Bundesebene, ist es um außerparlamentarische Aktivitäten und Protestformen in der Bundesrepublik recht still geworden. Dagegen hat sich auch hier die Polarisierung der Gesellschaft fortgesetzt: die Kluft zwischen „Arm“ und „Reich“ ist in den zurückliegenden Jahren deutlich größer geworden. Der bundesdeutsche Sozialstaat, so wird von Politikerinnen und Politikern und erst recht von den Wirtschaftsverbänden immer wieder betont, scheint an der Grenze seiner Finanzierbarkeit angekommen zu sein. Mehr noch, angeblich zu üppig ausgestattete Sozialleistungen hemmen nach Ansicht des gleichen Personenkreises allerorts die Motivation und Eigenaktivitäten der Bürgerinnen und Bürger. Angesichts derartiger Positionen ist der zunehmende Bedeutungsverlust der politischen Parteien und anderer gesellschaftlicher Großorganisationen als Repräsentanten des herrschenden parlamentarischen Systems nicht weiter verwunderlich. Die Schürung von Sozialneid gegen die vermeintlichen „Sozialschmarotzer“ – Alinsky würde sagen „Habenichtse“ – ist der Boden, auf dem Ausländerfeindlichkeit und Rechtsradikalismus in der Bundesrepublik gedeihen konnten.
Die so entstandenen gesellschaftlichen Probleme sollen nun ausgehend von dem Gedankengut des amerikanischen Kommunitarismus und unterstützt durch staatliche Förderprogramme angegangen werden. Hierbei soll das „Bürgerschaftliche Engagement“ in den Städten und Gemeinden unseres Landes gestärkt bzw. wieder neu hervorgerufen werden. Eine Woche der Bürgergesellschaft wird proklamiert und auch die rot-grüne Bundesregierung will laut Koalitionsvereinbarung das „Bürgerengagement anerkennen und unterstützen“. Nicht auszudenken, was geschähe, wenn alle diese Aktivitäten in den Aufbau von machtvollen Bürger-Organisationen nach dem Vorbild von Saul D. Alinsky münden würden! Daher bleibt sein Name und erst recht die von ihm entwickelten Organisationsprinzipien in derartigen von staatlicher Seite initiierten „Engagementmodellen“ unerwähnt.
Die von Saul D. Alinsky mit großem Erfolg angewandten Strategien zum zumindest punktuellen Aufbau einer Gegenmacht in der US-amerikanischen Gesellschaft spielten in den 70er Jahren in den theoretischen Konzepten der in der professionellen Sozialarbeit verwurzelten bundesdeutschen Gemeinwesenarbeit meist eine hervorgehobene Rolle. Von „konfliktorientierten“ oder gar von „aggressiven“ Ansätzen war damals die Rede. Heute jedoch ist dieser faszinierende Organizer auch in diesem Bereich weitgehend in Vergessenheit geraten und stattdessen widmet sich der Großteil der gegenwärtigen Gemeinwesenarbeit – ganz im Sinne des „common sense“ – eher moderierenden und auf einen Interessenausgleich abzielenden Stadtteil- bzw. Quartiersmanagementkonzepten zu oder entdeckt etwa die „lokale Ökonomie“ als neues Handlungsfeld. Neben diesem Mainstream lassen aber auch eine Reihe von Gemeinwesenarbeitsprojekten, Stadtteilinitiativen und Bewohnergruppierungen bis heute Ideen von Alinsky und Elemente von dessen Organisationsprinzipien in ihre Arbeit einfließen. Insgesamt jedoch fristen die Strategien der „Graswurzelbewegung“ in der Bundesrepublik eher ein Schattendasein. In den USA dagegen hat sich Community Organizing (CO) seit den Tagen von Saul D. Alinsky weiterentwickelt und verfestigt. Bürgerorganisationen sind dort in vielen Städten und Gemeinden aus dem öffentlichen Leben und aus dem kommunalpolitischen Geschehen heute nicht mehr wegzudenken. In der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Mißständen, sei es die Verslumung von Wohngebieten oder aber die Gewalt an Schulen, wurden auf lokaler Ebene zahlreiche Erfolge erzielt. Daneben haben sich landesweite Netzwerke sowie überregional arbeitende Trainingsinstitute etabliert. Community Organizing in den USA bedeutet heute nicht mehr lediglich „peppige“ Aktionen, wie z.B. das im Buch beschriebene, von der Woodlawn-Organisation angedrohte „Shit in“ auf dem Chicagoer O’Hare Airport (s. S.144 ff., 1. Aufl.). CO ist vielmehr deutlich darüberhinausgehend ein weitverbreiteter Ansatz zur Gestaltung des öffentlichen Lebens durch die Bürgerinnen und Bürger des Gemeinwesens.
Doch wieder zurück zur Situation in der Bundesrepublik. Hier haben vier Studentinnen und Studenten der Sozialarbeit zu Beginn der 90er Jahre in ihrer Abschlußarbeit die Unterschiede in Theorie und Praxis der bundesdeutschen Gemeinwesenarbeit und dem Community Organizing nach dem Vorbild von Alinsky umfassend und differenziert herausgearbeitet (Mohrlok u.a.: Let’s organize, München 1993). Diese Veröffentlichung bildete den Ausgangspunkt einer erneut verstärkten Auseinandersetzung mit den Organisationsprinzipien von CO und beschränkte sich keineswegs ausschließlich auf den sozialarbeiterischenPersonenkreis. Mittlerweile fanden in Deutschland vier Trainings in Community Organizing statt, jeweils durchgeführt von in den USA renommierten Organizern. Neben zahlreichen individuell organisierten Hospitationen und Praktika in CO-Projekten in den USA, fand darüber hinaus eine gemeinsame Studienreise zu den Wurzeln des Community Organizing nach Chicago statt.
Als Ergebnis werden seitdem auch in der Bundesrepublik die Bemühungen zur Verbreiterung der Ideen von CO intensiviert. Dies geschieht zum einen in der praktischen Umsetzung der gemachten Erfahrungen und gewonnenen Erkenntnisse in der eigenen beruflichen Praxis sowie im (kommunal-)politischen Engagement, zum anderen bei der Durchführung von Trainings mit auf Stadtteilebene aktiven Personen(-gruppen) oder im Rahmen von Fortbildungsveranstaltungen verschiedenster Träger bzw. in der Ausbildung an Fachhochschulen. In mehreren Städten in der Bundesrepublik existieren gegenwärtig Bemühungen, den Aufbau von Bürger-Organisationen nach dem Vorbild von Alinsky in die Praxis umzusetzen. Begleitet werden diese Bestrebungen durch fachberaterische Unterstützung des von Alinsky gegründeten Netzwerkes und Trainingsinstitutes „Industrial Areas Foundation“ (Chicago/USA). Verschiedene Veröffentlichungen und ein regelmäßig erscheinender Rundbrief zu aktuellen Entwicklungen im Community Organizing komplettieren die Aktivitäten auf bundesdeutschem Gebiet. Eingebettet sind diese seit Anbeginn in das seit 1993 existierende, bundesweite FOrum für Community Organizing e.V. (FOCO).
Sowohl die eingangs geschilderten gesellschaftlichen Entwicklungen in der Bundesrepublik als auch das hier wahrnehmbare wachsende Interesse an den Prinzipien und Arbeitsweisen von Community Organizing haben uns dazu bewogen, eine zweite Auflage von „Anleitung zum Mächtigsein“ herauszugeben. Auch wenn wir in der von Karl-Klaus Rabe 1984 veröffentlichten Übersetzung der Schriften Alinskys heute an mehreren Stellen eine etwas andere Wortwahl treffen bzw. andere Begrifflichkeiten verwenden würden, haben wir auf eine derartige Korrektur verzichtet, da dies eine weitgehende Überarbeitung des gesamten Textes nach sich gezogen und seine Wiederveröffentlichung in weite Ferne gerückt hätte.