Websters Lexikon definiert es als „bewußtes Bemühen, zu hören”. Beim zuhören ist der ganze Körper beteiligt; alles was wir haben wird eingesetzt, um zu verstehen, wo die andere Person ist, was sie denkt, welche Sorgen sie sich macht, wen sie mag und was sie fürchtet, was sie von sich selber hält, was ihr wirklich etwas bedeutet, was ihren Ärger erregt. Drei weitverbreitete Übel hindern uns daran, die Antworten auf diese Fragen zu finden: organisatorische (Aufgaben) – Fixierungen, persönliche Unsicherheit und fehlendes Interesse. Der Lärm unserer eigenen organisatorischen und persönlichen Bedürfnisse übertönt selbst die deutlichsten Signale anderer. Da die Menschen aber meist nicht so deutlich sind, haben wir keine Chance, sie zu verstehen, wenn unser Kopf mit uns selbst vollgestopft ist, wenn wir uns Gedanken darüber machen, wie wir durchkommen, was wir als nächstes sagen oder fragen oder wie das Gegenüber in unsere Organisation passen würde.
Interesse am anderen zeigt sich als Neugier, wir möchten eine Menge über die andere Person erfahren. Oberflächlich geführte Einzelgespräche ohne aktives Erkunden, ohne echte Offenheit gegenüber der anderen Person sind so, als ob man einer Bardame eine Liebeserklärung macht: Keiner von beiden glaubt sie.
Auf der anderen Seite öffnen sich Menschen, die fühlen, daß man sie hört, und schaffen so die Möglichkeit für Beziehungen, den eigentlichen Klebstoff für Organisationen.
Erfolgreiche Organisationen planen Kosten und Zeit für die Organisationsarbeit ein (für Serien von individuellen Treffen und Haus- oder Gruppentreffen), genauso wie sie im Tagesablauf Gelegenheiten schaffen, daß die Menschen einander Zuhören. Von der Spitze der Organisation bis zur Basis treffen sich die Leute, schaffen Verbindungen und rufen sich an.
Eng verwandt mit dem aktiven Zuhören ist das Einfühlen oder – mit einem Fremdwort – die Empathie. Das griechische Wort bedeutet „Zuneigung, Leidenschaft”. Websters Lexikon definiert Empathie als „die Projektion der eigenen Persönlichkeit in die Persönlichkeit einer anderen Person, um sie besser zu verstehen”. Gute Führungskräfte und Organisatoren können Herkunft, Religion, Alter, Geschlecht und Familiengeschichte überschreiten und sich buchstäblich in jemand anderen hineinversetzen, die Welt mit seinen Augen sehen und Dinge fühlen, wie er sie fühlt.
Einfühlen ist aktiv. Es bedeutet Fragen zu stellen, deuten, intuitiv erfassen und testen. Wir müssen die Geschichte des anderen kennenlernen und herausfinden, wie sich seine Geschichte in die Geschichte seiner Zugehörigkeit, seines Landes, seiner Region, der Wirtschaft, seiner Religion einfügt. Nach 23 Jahren Erfahrung als Organisator komme ich immer mehr zu einer recht einfachen Definition dessen, worum es geht: Organisieren ist das aktive Ausgraben der Geschichte eines Menschen, die gemeinsame Untersuchung der Bedeutung dieser Geschichte und die Gelegenheit, für die persönliche und gemeinsame Geschichte einen neuen Schluß zu schreiben. Psychologen und Talkshow-Moderatoren neigen dazu, mit der persönlichen Geschichte eines Menschen zu arbeiten. Historiker und Politiker neigen dazu, mit der offiziellen Geschichte zu arbeiten. Die Medien konzentrieren sich auf heiße, brandaktuelle Geschichten ohne Bezug zu größeren Zusammenhängen. Religiöse Führer neigen dazu, sich auf die religiöse Geschichte zu konzentrieren und legen einen Schwerpunkt darauf, bei schmerzvollen, persönlichen Geschichten zu helfen. Ökonomen opfern die Geschichte der Wirtschaftstheorie und der Religion des freien Marktes. Für sie spielen einzelne Menschen keine Rolle.
Es bleibt die Aufgabe von Führungskräften und Organisatoren die Besonderheit der Geschichte jeder einzelnen Person anzusprechen und zu achten und mit ihr zusammen den größeren Mächten um uns herum in Vergangenheit und Gegenwart einen Sinn zu geben, miteinander zu beraten, zu urteilen und zu handeln, um eine neue Geschichte und neue Geschichten zu schaffen.
Mitdenken bedeutet aufmerksam zu sein, andere rücksichtsvoll zu behandeln. Hannah Ahrendt schrieb nach dem Eichmann-Prozeß: Die größten Sünden sind die der Gedankenlosigkeit, die darin bestehen, daß wir nicht die Folgen bedenken, von dem, was wir tun. Das Gegenteil ist wahrscheinlich ebenso wahr: Die größten Liebestaten zeigen sich im Mitdenken. Mitdenken ist Einfühlung in Aktion.
Mitdenken zeigt sich in kleinen Dingen: Stühle sind richtig gestellt, Entwürfe sind durchdacht, die Leute werden begrüßt, weniger Wortgewandte werden in die Diskussion einbezogen, Neue werden anders kritisiert als Altgediente, Rollen werden getauscht, die Eiserne Regel („Tue nie etwas für jemanden, was er selbst tun kann”) wird nicht verletzt, Evaluationen sind präzise und persönlich, auch einzelne Meinungen werden ausgearbeitet, Übersetzungen sind professionell, es wird Zeit darauf verwendet, Menschen auf dem Laufenden zu halten, es wird Zeit gelassen, zu begreifen. Wir setzen nicht voraus, daß Leute lesen oder schreiben, Beteiligung ist mehr wert als hohes Niveau, Zeit wird respektiert, Anerkennung wird präzise und in hohen Dosen verabreicht, Organisationsaufgaben werden dem angepaßt, was Mitarbeiter für ihre Entwicklung brauchen, Fehlschläge werden untersucht, Workshops und Evaluationen werden sorgfältig geplant und nicht „im Fluge” durchgeführt, Leute werden verantwortlich gemacht, Aufgaben werden mit klaren Anweisungen verteilt und es wird ausreichend Zeit zur erfolgreichen Durchführung gelassen. Wir übernehmen Verantwortung für die Ergebnisse, wir sind pünktlich und vorbereitet.
Die Welt, in der wir alle gerne leben möchten; eine, in der jeder einzelne mit liebevollem Respekt behandelt wird, wird es zu unseren Lebzeiten nicht geben. Es liegt darum an uns, alles zu versuchen, um eine solche Welt innerhalb unserer Organisation zu schaffen. Die Einhaltung der Goldenen Regel („Behandle andere so, wie du selbst behandelt werden möchtest”) ist nicht nur persönlich bereichernd und erfüllend, sondern schafft auch starke Organisationen, entfesselt Talente und Energien und sie hält Mitarbeit, Unterstützung und Identifikation in einer Weise aufrecht, wie Anweisungen und Aktionen es niemals könnten.
Die besondere Gabe vieler Religionen sind die Rituale. Die Christenheit hat die größte Kirche der Welt vor allem durch das Festhalten an einem Ritual aufgebaut, der Kommunion oder dem Abendmahl, durch die jede anwesende Person unmittelbar am Mysterium des Glaubens teilhat.
Ein Ritual überhöht die Gegenwart. Es verbindet Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Es berücksichtigt, daß wir Geschöpfe mit vielen Sinnen sind, und es bietet für jeden dieser Sinne etwas. Wir sehen, hören, berühren, schmecken, riechen und fühlen. Es erlaubt unterschiedlichen Menschen über ein gemeinsames Erlebnis miteinander in Beziehung zu treten. Ein Ritual ist von zentraler Bedeutung, läßt aber so viele Deutungen zu wie es Menschen gibt. Es weist immer wieder darauf hin, wie die Welt sein könnte, und daß wir ein Teil von ihr sind. Es gibt eine Kraft, die über die Fähigkeiten und Energie derer hinaus geht, die es berufsmäßig zelebrieren. Wichtig ist die systematische, wiederholte Anwendung. Der wiederkehrende Rhythmus ist wichtiger als gelegentliche spektakuläre Rituale.
Das IAF – Ritual definiert sich als Planung-Durchführung-Auswertung (Briefing-Action-Evaluation). Das ist die Liturgie der Industrial-Area-Foundation, unsere zentrale Verfahrensweise bei der Aus- und Weiterbildung von Organisatoren und Gruppenleitern. Die straff geführte, konzentrierte Zusammenkunft ist ein zweites Ritual. Überall im Land kann man ein IAF-Treffen daran erkennen, daß es kurz und klar ist, mit reger Beteiligung und auf Handeln ausgerichtet. Unser nationales Ritual ist ein 10-Tage-Training, wahrscheinlich ein Schlüssel zu unserer Expansion und zu unserem Erfolg seit Mitte der 70ger Jahre. Historisch gesehen waren die stärksten Organisationen immer handlungsorientiert, sie achten sehr auf Evaluation, halten ihre Treffen kurz und gering an Zahl und schicken ihre besten Leute zum Nationalen Training. Die schwächeren Organisationen machen das Gegenteil: Sie haben mehr Treffen als Aktivitäten, lassen Auswertungen und Rechenschaftslegungen zu kurz kommen und brauchen kein Training für ihre besten Leute.
Die schwächeren Organisationen gehen auch fast immer unseren wichtigsten Ritualen aus dem Weg, den Einzelgesprächen und den Gruppen- oder Hausversammlungen. Man kann einfach keine „Macht der Beziehungen” aufbauen, wenn diese zwei Rituale nicht ständig von so vielen Gruppenleitern wie möglich geübt werden. Einzelgespräche sind das tägliche Brot einer Organisation, Gruppen- oder Hausversammlungen sind das sonntägliche Mittagessen. Der Organisator, der als einziger Einzelgespräche führt, ist wie ein Pastor, der eine private Messe zelebriert oder wie ein Pfarrer, der als einziger in der Bibel liest. So verkommt unsere große verbindende Zeremonie zum Privateigentum eines Lohnempfängers.
Starke Organisationen lassen jedes Jahr Haus- und Gruppenversammlungen in die Terminkalender ihrer Mitgliedskirchen einbauen, die häufig zu den Schlüsselterminen des liturgischen oder organisatorischen Jahres passen. Ihre Leiter sind auf Einzelgespräche geschult, sie haben regelmäßig Einzelgespräche, sie geben Rechenschaft über ihre Einzelgespräche. Das „Portland Organizing Projekt” weist bei jedem Treffen Zeit für Einzelgespräche aus und ritualisiert damit dieses Ritual noch weiter.
In der Baptistenkirche, in der ich aufgewachsen bin, werden regelmäßig alle „Abtrünningen” zur Rede gestellt und befragt, wenn sie nicht mehr zum Gottesdienst kamen, nicht mehr beteten oder keine Spenden mehr gaben. Die Führungskräfte, die von unseren grundlegenden Ritualen „abtrünnig werden” bekommen ihre Strafe jedoch nicht in einer zukünftigen Hölle, sondern hier und jetzt, und zwar in Form einer dürftigen, schwächlichen, ängstlichen Organisation mit wenig Geld, wenig Führungskräften und wenig Energie.
Oft wird durch die Art, wie man ein Problem zu lösen versucht, die Situation nur verschlechtert, wie bei den mittelalterlichen Badern, die ihre geschwächten Patienten auch noch zur Ader ließen oder bei dem Baseballspieler, der einen Superschlag landen will und den Ball ins Aus schlägt, weil er zu viel Schwung genommen hat. Mir scheint, daß der beste Weg zur Lösung einiger der harten Seiten von Organisationsproblemen – Geld, mehr Mitglieder, mehr Aktive, bessere breitere Führungsgrundlage, Quoten u.s.w. über die sanfte Seite führt.
– Wenn man mehr Mitglieder in seiner Organisation haben möchte, sollte man sich die Frage stellen: Wie behandeln wir denn die Mitglieder, die wir schon haben? Stehen wir im Mittelpunkt ihres Interesses? Helfen wir ihnen, eine Beziehungskultur aufzubauen? Haben wir sie mit unseren Ritualen erreicht?
– Wenn man mehr Geld möchte, sollte man sich fragen: Kennen wir die Geschichten unserer Mitglieder? Für wieviele Menschen hängt die eigene Geschichte von unserer gemeinsamen Strategie ab? Wieviel Menschen waren an der Diskussion um Geld beteiligt?
– Wenn man mehr Führungskräfte, Gruppenleiter haben will, sollte man sich fragen: Was machen wir mit den Führungskräften, die wir schon haben? Werden sie herausgefordert, engagiert, zum Wachsen ermutigt? Führen sie Einzelgespräche und machen sie Gruppentreffen? Haben sie klare, die Eigeninteressen der Mitglieder berücksichtigende Verantwortlichkeiten aufgebaut und genug Unterstützung, um Erfolgreich zu sein?
Noch allgemeiner formuliert, sollten wir uns folgende Fragen stellen: Höre ich zu? Versetze ich mich in die Lage des anderen? Zeigen meine Beziehungen zu anderen, daß ich mitdenke? Stehe ich treu zu unseren lebensspendenden Ritualen? Wenn Fußballmannschaften ein Spiel verloren haben, kehren sie gewöhnlich, um wieder Tritt zu fassen, zu den Grundelementen ihres Spiels zurück: Abblocken und Angriff. Um stark und zäh genug zu sein, es mit wirtschaftlichen und politischen Gegnern unserer Familien und Gemeinschaften aufzunehmen, wären Organisationen besser beraten, sich auf die sanften Künste des Organisierens zu besinnen: Zuhören, Einfühlen, Mitdenken und gemeinsame Rituale.