Die Herausforderung des 21. Jahrhunderts: Vom Staats- zum Zivilbürger!

Marginalie:
Die Informationstechnologie hat uns in die dritte industrielle Revolution katapultiert. Staat und Gesellschaft stehen in einem tiefgreifenden Wandel. Lasst uns die Chance nutzen und uns mehr ins Leben einmischen, fordert Wolfgang C. Goede. 2001 ist das Jahr der Freiwilligen und des bürgerlichen Engagements.

Neulich hatte ich einen Traum. Ich gehe durch einen Wald voller Pyramiden – und auf jeder Spitze thront ein General. Unten an der Basis steht viel Fußvolk, das ächzend und wankend die Bauwerke auf seinen Schultern trägt. „Das ist unsere Gesellschaft“, erklärt mir eine Stimme. „Bei den Affen wie bei den Steinzeithorden: Einer ist immer das Alphamännchen und gibt den Ton an, der Rest folgt.“ Als der Mensch vor 10.000 Jahren sesshaft wird, die ersten Städte gründet und Hochkulturen entstehen, werden diese Pyramiden immer höher und mächtiger. „Götter, Könige, Schriftgelehrte – sie erheben sich über Heerschaften von Menschen, die ihnen willenlos ergeben sind“, kommentiert die Stimme.

Schließlich wird der Pyramidenwald lichter und flacher. „Der Beginn der Neuzeit, amerikanische und französische Revolution“ – das Individuum, der Bürger und die Menschenrechte sind entdeckt worden. Bald bin ich im Jahr 2000 angelangt, doch die Pyramiden sind kaum kleiner geworden: Ärzte, Wissenschafter, Sozialarbeiter, Politiker, Ehemänner hocken jetzt auf ihnen.

Kurz vorm Aufwachen erhasche ich noch einen Blick vom Jahr 2025: Die Besetzer der Spitzen sind zum Teil heruntergeklettert und tragen jetzt die Last mit, woanders sind die Spitzen abgesägt worden und auf den Stümpfen tummeln sich Wähler, Patienten, Frauen, ausländische Mitbürger, Verbraucher – und ganz weit vorne weichen die Pyramiden flach an- und absteigenden Stufen, auf denen jeder frei seines Weges geht.
„Willkommen in der Zivilgesellschaft“, steht darüber in großen Lettern.

Verdutzt rieb ich mir die Augen: ‚Aha, so also dürfen wir uns die vielgepriesene Zivilgesellschaft vorstellen, über die neuerdings fast täglich in den Zeitungen etwas Kluges zu lesen ist, aber immer nur in seltsam blutleeren Phrasen‘, dachte ich.

Für Bundeskanzler Gerhard Schröder ist die „zivile Bürgergesellschaft“ eine Art Wunderwaffe, mit der sich zum Nulltarif Hunderttausende Freiwillige und Ehrenamtliche für soziale Tätigkeiten gewinnen lassen, für die dem Staat angeblich das Geld ausgeht. Für die Neoliberalen ist die Zivilgesellschaft ein willkommenes Schlagwort, mit dem der Sozialstaat und staatliche Regulierungen jeglicher Art verdammt und auf den Schrottplatz der Geschichte geworfen werden, um einem hemmungslosen Kapitalismus den Weg zu bereiten. Bei vielen Altlinken und 68-ern schließlich weckt die Zivilgesellschaft die neuerliche Hoffnung auf einen starken Staat und eine möglichst klassenfreie Gesellschaft sowie gleiche Verteilung ihrer Güter.

Aber die Bilder meines Traumes verhießen etwas Anderes, Unideologisches, das sich nicht so leicht in die Kategorien von Rechts und Links pressen lässt: die längst überfällige Emanzipation des Individuums und Bürgers, der sich vom Gängelband der Bevormundung durch Staat, Verwaltung und andere Machteliten löst, übermächtige Hierarchien sprengt, sich in all seine Belange mehr einmischt und einen evolutionären Quantensprung hin zu einem selbstverantwortlicheren und damit glücklicheren wie produktiveren Leben vollzieht.

Was das konkret heißt, erfahre ich selber seit einigen Jahren an meiner eigenen Seele. Vor sieben Jahren überfielen mich Ängste, die mir immer mehr mein Selbstbewusstsein raubten und mich in Verzweiflung stürzten. Wir Männer tun uns ja bekanntlich schwer mit unseren Gefühlen, sodass ich statt darüber mit jemanden zu sprechen die Zähne zusammenbiss – was alles nur noch viel schlimmer machte. Als das Netz sich immer enger zog und ich morgens nur noch mit Mühe aus der Wohnung fand, suchte ich schließlich die örtliche Angstambulanz auf. Der leitende Arzt interviewte mich und zeigte kaum Interesse – als ich mich zum nächsten Termin einfand, hatte er diesen vergessen.

Im nachhinein war dies das Beste, was mir hätte geschehen können: Denn zum einen verschrieb er seinen Patienten sowieso nur Medikamente, wie ich später erfuhr, zum anderen fand ich aufgrund dieser barschen Abfuhr den Weg zur Münchner Angsthilfe und Angstselbsthilfe MASH. Dort treffen sich Angstbetroffene regelmäßig unter der Leitung von Laien und sprechen über ihre Gefühle und Probleme. Das half mir sofort. Ohne eine Tablette geschluckt oder auch nur einen Tag bei der Arbeit gefehlt zu haben, ging es aufwärts – und seit einigen Jahren leite ich selber eine Gruppe, in die ich meine eigenen Angst-Erfahrungen gewinnbringend einfließen lassen kann.

Was heißt Selbsthilfe, wie funktioniert sie und was ist ihre zivilgesellschaftliche Bedeutung?

Klare Antworten darauf liefert das „Selbsthilfegruppenjahrbuch 99“. Darin wird ein vielen nicht gerade geläufiges Krankheitsbild entworfen. Der Mensch ist immer Symptomträger seines sozialen Kontextes, in dem sich Krisen als Lebensbrüche darstellen, die die Chance zur Veränderung und Verbesserung des Lebens in sich tragen. Um das zu erreichen, muss der erkrankte und in der Klinik pathologisierte Mensch lernen, wieder an sich selber zu glauben und seine eigenen Ressourcen zu mobilisieren. In einer Selbsthilfegruppe wird die Krankheit nicht länger verdrängt, sondern in der Konfrontation damit lernt der Betroffene, sie zu verarbeiten. Süchtige erkennen im offenen Gespräch alte, hinderliche Einstellungen, die wie Tapeten an ihnen haften, bis sie sich davon häuten und eine neue, gesündere Haltung zum Vorschein kommt.

Chronische Schmerzpatienten führt der Leidensweg oft in die Depression -Selbsthilfegruppen bauen einen Riegel vor: Das Gespräch über die Schmerzen und Probleme schafft Erleichterung und führt aus der Isolation heraus. Das Wissen um die Entstehung des Schmerzes sowie die Konfrontation mit ihm lindern die Ängste und die Schmerzen. Das lässt die Zufriedenheit wachsen und endet mit der sozialen Reintegration der Betroffenen. Dieser Zyklus lässt sich auf viele Krankheiten und Störungen, ob physisch oder psychisch, übertragen.

Das alles ist so effektiv, dass der Essener Soziologe Eckart Pankoke der Selbst-Hilfe mehr Bedeutung als der klassischen Für-Sorge zuspricht, denn: Wer auf fremde Hilfe angewiesen ist, muss sich dem Helfer unterwerfen. „Das Selbst wird durch Hilfe außer Kraft gesetzt, wenn eine Hilfe von oben, d.h. im sozialen Gefälle der Überlegenheit organisierter Macht oder professionalisierter Kompetenz dem Hilflosen seine Sorge abnehmen will.“ In solcher Fürsorge könne der Hilfeempfänger zum Abhängigen oder Beherrschten werden.

Die Teilnehmer des ersten Selbsthilfekongresses 1998 in Bad Homburg erkannten Selbsthilfe als neuen Machtfaktor im Gesundheitswesen. Finanziell ist dieser Trend außerordentlich lohnenswert, weil eine Fördersumme von 100 DM zu einer Wertschöpfung von fast 600 Mark führt. Der Politikwissenschaftler Winfried Kösters spricht sogar von einer neuen Macht im Staate, die in einer „stillen Revolution“ das politische System unterwandert. In Deutschland gibt es 70.000 Selbsthilfegruppen mit ca. drei Millionen Mitgliedern – das sind fast doppelt so viele Menschen wie die im Bundestag vertretenen Parteien Mitglieder haben.

Auch der Münchner Sozialpsychologe Heiner Keupp macht sich für den Selbsthilfegedanken stark. Er wirbt für eine „soziale Alphabetisierungskampagne“, die wegführt von der patriarchalischen Hilfe von oben nach unten und die zu „selbstbestimmten Problemlösungen“ ermutigt. Auf der Tagung „Qualität durch Partizipation und Empowerment“ stellte er im Herbst 1998 in München neue Formen der Selbstverwaltung vor, darunter sich selber organisierende Alten-Wohngemeinschaften und Mütterzentren, in denen die Besucherinnen die Inhalte ihrer Arbeit bestimmen und sich gegenseitig helfen. Den Paradigmenwechsel fasste Keupp unter dem einprägsamen Motto zusammen:

Die Laien werden zu Praxisexperten aufgewertet, die Profis nehmen sich zurück und beschränken sich auf die Beratung.

Das löste unter den 200 Teilnehmern aus den verschiedensten sozialen Berufen Unruhe und Befremden aus – doch viele Beispiele zeigten, dass die meisten Hilfesuchenden sich sehr gut selber zu helfen wissen und oft nur richtig gecoacht, also durch beratende Gespräche auf die richtige Bahn gesetzt werden müssen, um dann durch eigenes Zupacken ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen. Es zeigte sich auch, dass die etablierte Sozialberufe dadurch keineswegs überflüssig werden – nur Rolle und Selbstverständnis der darin Tätigen neu definiert werden müssen. Viele die den Schritt bereits vollzogen und vom Macher zum Berater gewechselt waren, äußerten tiefe Befriedigung über ihre Arbeit und den Fortschritt ihrer Klienten.

Nicht nur die Soziale Arbeit steckt im Umbruch, auch die nachbarschaftlichen Beziehungen, Kommunal- und Gemeindearbeit verlangen beherzteres Engagement durch die „Fachexperten“, die Bürger – sonst wird der Souverän von seinen gewählten Repräsentanten in den verschiedenen politischen Gremien schlichtweg vergessen.

Ich wohne in München im Olympiadorf, das sich als aktive Zelle der Bürgergesellschaft begreift. Seine Anwohner sind gut organisiert und nehmen die Lokalpolitiker regelmäßig in die Pflicht. So waren wir auf einer Bürgerversammlung mit 1000 Leuten und einer Gegenresolution zur Stelle, als die ersten Pläne aufkamen, in unserer Nähe ein neues Fußballstadion zu errichten; wir konnten mit der Stadt für einen stattlichen Zuschuss für die Sanierung der privaten Fußgängerwege aushandeln; und momentan liegen wir im Clinch mit dem Baureferat, weil bei der Verlegung der Stadtautobahn in einen Tunnel ein modernes Filtersystem vergessen wurde.

Unserer Erkenntnis: Wählen allein reicht nicht: Jeder Bürger ist aufgerufen, sich einzumischen und sein Gemeinwesen im Dialog mit Politik und Verwaltung mitzugestalten – erst damit wird die formalrechtliche Demokratie zur aktiv-gestalterischen Lebensform.

Mit dem Ein- und Mitmischen tun wir Deutschen uns freilich schwer, nachdem uns die bürgerschaftliche Tradition fehlt. Die Anfänge wurden bereits 1848 mit dem Scheitern der Paulskirchen-Verfassung erstickt; es folgten Bismarcks Obrigkeitsstaat, die Wirren der Weimarer Republik, das Hitlerregime – und die Demokratie wurde von den westlichen Siegermächten verordnet. In den 80-er Jahren kam dann im Ostblock erstmals als Gegenentwurf zum Marxismus-Leninismus der Begriff von der „Zivilgesellschaft“ auf. Er zündete auch in der DDR, wo die Bürgerbewegung 1989 die Mauer hinwegfegte. Seitdem ist das Wort in aller Munde – doch kaum jemand weiß, was damit gemeint ist.

Alle großen Staatsphilosophen sind sich darin einig, dass der Bürger vorm Staat geschützt werden muss und dieser Schutzraum die „civil society“ ist, so John Locke (1632-1704). Bei seinem Modell der Gewaltenteilung thematisiert Charles Montesquieu (1689-1755) das Gleichgewicht einer zentralen Autorität und eines gesellschaftlichen Netzwerks, das auch außerhalb der politischen Struktur ein Leben besitzt. Konkreter wird Alexis de Tocqueville (1805-1859). Im Amerika des frühen 19. Jahrhunderts bewundert er die rege Teilnahme der Bürger am öffentlichen Leben, die in dieser Weise in Europa nicht bekannt ist – trotz der französischen Revolution. Statt nach der Obrigkeit zu rufen, gründen die Amerikaner Vereine und Organisationen, um kommunale Probleme gemeinsam anzugehen. Diese „Community Organizations“ * werden heute professionell organisiert . Sie spielen in der Lokalpolitik in vielen Städten und Gemeinden eine oft entscheidende Rolle und sind zum Teil wichtiger als die Parteien.

Diese Vereinigungen sind für Tocqueville die Urzellen der Zivilgesellschaft, „Schulen der Demokratie“, in denen demokratisches Denken und ziviles Verhalten durch die alltägliche Praxis eingeübt wird. Sie dienen der Verankerung von Bürgertugenden wie Toleranz, Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit und Zivilcourage und erzeugen das soziale Kapital, ohne das Demokratien über längere Zeit nicht existieren können.

Aus diesem philosophischen Gerüst erschließt sich: Die Zivilgesellschaft ist dem Staat gleichberechtigt und tritt ihm unterstützend zur Seite, organisiert sich selber von unten nach oben – und kann also nicht verordnet werden, wie es deutsche Politiker gerade versuchen. Die Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel und Hans-Joachim Lauth gehen bei der Interpretation unter Berufung auf Jürgen Habermas noch weiter („Aus Politik und Zeitgeschichte“, 30.1.1998). „Die Zivilgesellschaft kann den Staat rechenschaftspflichtig machen“; sie stellt „Öffentlichkeit her und bietet dafür sowohl die Foren wie auch die Akteure“,“ist im Zwischenbereich von Privatsphäre und Staat angesiedelt“ und „beeinflusst auch die Ausbildung einer Streitkultur“ – oder um ein Modewort zu benutzen:
Der Weg in eine nachhaltige Demokratie führt nur über die Zivilgesellschaft!

Zurück in den Alltag. Im Mai 1999 organisierte die Vorsitzende der Theodor-Heuss-Stiftung, Hildegard Hamm-Brücher, als Beitrag zum 50. Jahrestag des Grundgesetzes eine bundesweite Bürgerwoche, um die Akzeptanz unserer Verfassung zu testen. Der Kölner Soziologe Erwin K. Scheuch geißelt ja schon seit Jahren die Parteipolitisierung von immer mehr Lebensbereichen und die Allgegenwart parteipolitischer Ämterpatronage. Diesen Befund unterstrichen auch die Bürgerwochen-Aktiven, als sie verlangten: Die Staatsgewalt in diesem Land muss mehr vom Volk und weniger von den Parteien ausgehen – wie das Grundgesetz es ja auch verlangt:

„Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“ (Art. 20), „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit“ (Art. 21).
Hildegard Hamm-Brücher fand eine deutliche Sprache, als sie den Verstoß dagegen mit den folgenden Worten rügte:

„Obwohl nur 3,4 Prozent der 60 Millionen Wahlberechtigten Mitglieder politischer Parteien sind, haben die Parteien in oligarchischer Weise Besitz von der Demokratie ergriffen.“

Als dann Ende 1999, Anfang 2000 der Kohlsche Parteispendenskandal die politische Kultur dieses Landes vergiftete und sich zeigte, dass der Ex-Kanzler die Bundesrepublik 16 Jahre lang wie ein „vordemokratischer Feudalherrscher“ (Süddeutsche Zeitung) regiert hatte, gingen die Initiatoren der Bürgerwoche in die Offensive und schlossen sich zum „Bündnis zur Erneuerung der Demokratie“ (BED) zusammen. Ziel ist die Vernetzung aller Initiativen und Selbsthilfegruppen zu einem gemeinsamen Forum, um wirkliche Reformen durchzusetzen.

Der BED erhebt u.a. die Forderung nach einem Demokratie-Pfennig: Ein Prozent der staatlichen Parteienfinanzierung wird danach unabhängigen Bürgergruppen und Selbsthilfeinitiativen zur Verfügung gestellt, die sich für die Zielen der Bürgergesellschaft einsetzen. Damit soll ehrenamtliche Arbeit für das Gemeinwohl honoriert werden, die von einem Drittel der Bundesbürger geleistet wird (der genaue Text des BED-Papiers befindet sich auf der unten angegebenen Homepage).

Zwischenfazit: Nach 10.000 Jahren Zivilisation ist es an der Zeit, von unserem sozialen und politischen Instrumentarium die Patina herunterzukratzen und die Weichen zu stellen, damit sich der vom alten Obrigkeitsstaat geprägte Staatsbürger zu einem modernen Zivilbürger weiterentwickeln kann. Die Digitalisierung und Globalisierung werden unserer gewohnte Lebens- und Arbeitswelt rasch und durchgreifend verändern, worauf viele Menschen schon jetzt mit Angst und Ablehnung reagieren werden – die zunehmenden Gewalttaten gegen Ausländer zeigen, dass Fremdenhass und Nazismus unsere Gesellschaft schon wieder fest in ihren Griff nehmen wollen. Mit einem „Aufstand der Anständigen“, zu dem Bundeskanzler Schröder unlängst aufrief, ist es nicht getan. Wir brauchen zivilgesellschaftliche Reformen, die an der bequemen Versorgungs- und Betreuungsmentalität der Einzelnen ebenso wie an den verkrusteten Machtkartellen ansetzen, verlangt der Münchner Soziologe Ulrich Beck, aber: „Es reicht nicht, die Zivilgesellschaft zu ermächtigen, man muss auch die staatliche Bürokratie entmächtigen.“

Rückbau des Staates – das ist für viele Zeitgenossen ein rotes Tuch. Dass damit aber nicht zwangsläufig der neoliberale Kahlschlag gemeint ist, lässt sich in der Reformwerkstatt der ZEIT nachlesen (25.3.1999). Der Sozialstaat sei ein undurchdringliches Dickicht geworden, „komplizierter als Atomphysik“. Jede dritte Mark, die erwirtschaftet werde, fließe durch seine Hände. Er ist ungerecht, denn „er belastet den Faktor Arbeit so sehr, dass Arbeitslose geradezu ausgesperrt werden“. Auf einen Rentner komme demnächst ein Arbeitnehmer. Der neuen Lage „ist der Sozialstaat allein nicht gewachsen … ein verändertes Sozialsystem zeichnet sich ab“. Darin müsse der Staat wie bisher ein Minimum garantieren, doch „wo er nicht mehr gebraucht wird, zieht er sich zurück“ und überlässt den Zivilbürgern das Feld.

Das lässt sich für die unterschiedlichsten Lebensbereiche durchdeklinieren, ganz besonders auch für die Wissenschaft, die weiterhin einer gestelzten „Pyramidensprache“ frönt, die ein Normalo kaum versteht. Hat uns, die Verbraucher, jemand gefragt, ob wir genmanipulierte Nahrungsmittel – „Frankenstein-Food“ – essen wollen? Von der Forschung sind in den nächsten hundert Jahren die dramatischsten Veränderungen unseres Lebens zu erwarten – vielleicht sogar die radikalsten unserer Zivilisationsgeschichte. Als Folge der fehlenden Transparenz in Wissenschaft und Forschung werden die Umbrüche von Politik und Gesellschaft nur noch abgenickt werden können – obwohl wir doch mit unseren Steuergeldern einen Großteil der Forschung finanzieren.

Der renommierte amerikanische IT-Experte Ray Kurzweil prognostiziert in seinem Buch »Homo S@piens« (Kiepenheuer & Witsch), dass in ein paar Jahrzehnten Roboter Entscheidungen an wichtigen Schalthebeln der Gesellschaft treffen könnten. Ob wir gefragt werden, hängt von uns selber ab. »No taxation without representation«, lautete der Schlachtruf der Boston Teaparty, der die Abnabelung der amerikanischen Kolonien vom britischen Empire einleitete.

Wir müssen ja nicht gleich die dicksten Löcher bohren, sondern es wäre ja schon ein ermutigender Auftakt, wenn wir auf der untersten Ebene von Zivilgesellschaft und Demokratie anfangen könnten, in der Beziehung zum Lebenspartner, den Kindern, Kollegen… Wie viele Konflikte schwelen hier, wie viele falsche Worte nagen am Lebensglück der Menschen, wieviel Feigheit und Angst verschütten uns den Zugang selbst zu den uns am nächsten stehenden Menschen!

Übrigens: Zivilgesellschaft hat auch mit Zivilcourage zu tun.

PS: Herzlichen Glückwunsch, Sie haben sich durch 21.000 Anschläge geackert und dabei einen Parforce-Ritt durch die Menschheits- und Sozialgeschichte absolviert. Damit das nicht verpufft, möchte ich den Essay auf fünf schlichte Worte herunterbrechen und Ihnen diese als Motto ans Herz legen für Ihren Weg in die Zivilgesellschaft:

Wer nicht handelt, wird behandelt! Marginalie

*) Das deutsche „Forum für Community Organizing (Foco) e.V.“ versucht das zivilgesellschaftliche Engagement nach amerikanischem Muster in Deutschland bekannt zu machen und zu kultivieren – siehe dazu auch die unten aufgeführte Homepage.

Wolfgang C. Goede, 50, ist Politikwissenschaftler, Wissenschaftsjournalist und wohnt in München.

Mehr Info zum Thema unter www.casa-luz.de/co.

Der Autor ist erreichbar unter
info@casa-luz.de

Literatur:
Selbsthilfejahrbuch 1999, Hg: Deutsche Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen e.V., Friedrichstr. 28, 35392 Gießen
Saul D. Alinsky, Anleitung zum Mächtigsein, Zusammengestellt von Karl-Klaus Rabe, Herausgegeben von Foco, Lamuv TB 268, 2. Aufl. Göttingen 99