(Dorfbote Olympiadorf 1999)
Vivat! Unser Grundgesetz feiert seinen fünfzigsten Geburtstag – von einer bürgernahen Demokratie ist Deutschland allerdings noch weit entfernt. „Die Wähler werden zu Zuschauern degradiert,“ kritisiert Hildegard Hamm-Brücher, die Vorsitzende der Theodor-Heuss-Stiftung, und fordert:“Wir müssen uns viel mehr in die Politik einmischen!“ Obwohl laut Artikel 20 alle Staatsgewalt vom Volk ausgehe, beschränke sich die politische Beteiligung lediglich auf die Wahlen. Nachdem die Parteien aber nur 3,4 Prozent der 60 Millionen Wahlberechtigten vertreten, „haben sie in oligarchischer Weise Besitz von der Demokratie ergriffen“. Die Bundesrepublik sei eine von Parteien dominierte Staatsgesellschaft, die sich in eine offenere und mehr in Eigenregie gestaltende Bürger- oder Zivilgesellschaft weiterentwickeln müsse.
Als ein Muster für stärkeres Bürgerengagement wird inzwischen das Konzept der „Bürgergewerkschaften“ diskutiert, das aus Chicago stammt. Im mittleren Westen Amerikas hat der politische Kampf eine lange Tradition. Es waren die Chicagoer Arbeitnehmerverbände, die im Jahr 1886 den 1. Mai zum Kampftag erklärten, nachdem bei Streiks für den Achtstundentag 17 Menschen getötet und über hundert verletzt worden waren. Ein zweites Mal schrieb die Stadt am Michigansee am 14. Juli 1939 Sozialgeschichte: Auf den Tag genau 150 Jahre nach dem Sturm auf die Bastille gründete der russische Einwanderersohn Saul Alinsky in dem berüchtigten Chicagoer Schlachthof-Viertel die erste Bürgergewerkschaft. Dort lebten die Menschen in katastrophalen Verhältnissen, die der Schriftsteller Upton Sinclair in seinem Weltbestseller „Der Sumpf“ zwar bereits vor 30 Jahren eindringlich beschrieben hatte – ohne allerdings etwas ändern zu können.
Alinskys baute auf dem Grundsatz gewerkschaftlicher Selbsthilfe auf: Die Menschen müssen direkt von einem Problem betroffen sein, ihre eigenen Sprecher rekrutieren und dann in einer Massenbewegung sich gegen Verantwortliche wenden, die sie so stark unter Druck setzen, daß diese ihre Forderungen erfüllen. Dabei bedienen sie sich streikähnlicher Mittel – weshalb diese neuartigen Nachbarschaftsorganisationen (auf englisch: community organizations) sich am besten mit Bürgergewerkschaften übersetzen lassen.
Alinsky war ein genialer Stratege und lehrte die Mächtigen mit witzigen David-gegen-Goliath-Aktionen das Fürchten. Als er in den 60er Jahren die Schwarzen im Süden der Stadt organisierte, um mehr Geld für die Sanierung ihrer Slums zu fordern, zeigten die Rathauspolitiker ihnen zunächst die kalte Schulter. Das änderte sich aber schnell, als die Zeitungen ein Interview mit den Führern der Schwarzen druckten, worin sie drohten, auf dem internationalen Flughafen O’Hare einen Klo-Streik durchzuführen und sämtliche Toiletten zu besetzen. Dagegen gab es keine juristische Handhabe, die Stadt hätte sich aber vor den Augen der feixenden Welt blamiert, so daß Bürgermeister Richard Daley zähneknirschend nichts anderes übrig blieb, als den Geldhahn zu öffnen. Der Spott war als eine wichtigste politische Waffe der Underdogs entdeckt worden. Als Alinsky 1972 starb, wurde er gefeiert als sozialer Innovator, der die Politik für die kleinen Leute neu erfunden hatte.
Heute ist der Anwalt der Machtlosen lebendiger den je. In fast jeder US-Stadt gibt es Bürgergewerkschaften, die sich zu mächtigen Netzwerken zusammenschließen und mittlerweile sogar in Washington ihre Hebel ansetzen. In jahrelanger Arbeit gelang es ihnen, ein neues Bundesgesetz durchzusetzen, das die Banken an die Leine legt. Diese waren nämlich überführt worden, daß sie willkürlich Slums erzeugen, indem sie kein Geld mehr in Wohngebiete von Minderheiten fließen lassen – sie also finanziell strangulieren. Jetzt müssen die Geldinstitute 1,6 Milliarden Dollar in die heruntergekommenen Stadtgebiete Amerikas investieren. „Eine Revolution für die Menschheit, Banken ihre Geschäftspolitik vorzuschreiben“, kommentierte die „New York Times“.
Verantwortlich für diesen Coup war Shel Trapp, Direktor des „National Training and Information Center“ (NTIC) in Chicago. Er war früher Methodistenpfarrer und organisiert seit 30 Jahren die „Verlierer des amerikanischen Traums“, wie er knapp sagt, „nur das ausführend, was mir mein Evangelium vorschreibt“. Er sei nicht Problemlöser, sondern bringe die Menschen nur zu eigenverantwortlichen Handeln, so daß sie selber ihre Probleme lösen könnten. Er legt eine Videokassette ein und führt „Lehrmaterial“ vor. Es erscheint eine bunte Menge – Weiße, Schwarze, Indianer -, die aus Bussen hervorquillt und sich vor einer Luxusvilla versammelt. Das sind Mitglieder der US-weiten Koalition „National People’s Action“ (NPA), von Trapp vor 25 Jahren gegründet. Jeden April treffen sie sich in Washington und überraschen Führer aus Politik und Wirtschaft mit ihren Besuchen. Im letzten Jahr hatten die über 300 Organisationen der NPA versucht, einen Termin mit dem Präsidenten einer der größten US-Hotelketten, Mariott, zu bekommen. Nachdem dieser nicht geantwortet hatte, „besuchten“ ihn 500 Menschen zuerst in seiner Villa, dann in seinem Golf-Club und schließlich in seinem Büro. Vorm Washingtoner Marriott-Hauptquartier harrte die Menge so lange aus, bis die Konzernleitung eine 12köpfige Delegation empfing. „Unsere Vereinbarung läßt sich sehen“, triumphiert Trapp. „Sechstausend Jobs, Nahrungsmittel-Einkauf bei kleinen Farmern, Verwendung von Indianer-Schmuck als Gästezimmer-Dekoration.“
Zehn U-Bahn-Minuten entfernt von NTIC befindet sich die „Industrial Area Foundation“ (IAF). Sein Direktor, Ed Chambers, koordiniert ein Netz von über 50 Organisationen im ganzen Land. Um seine Arbeit zu beschreiben, greift Chambers gerne auf die Polis zurück, den griechischen Stadtstaat, in dem die Bürgerschaft auf dem Marktplatz für ihre Interessen stritt. „Diesen elementaren Zugang zur Demokratie lernt der heutige Mensch nirgendwo“, bemängelt er. „Das holen wir nach und zeigen ihm, wie man in der öffentlichen Arena sein Anliegen einbringt und sich Gehör verschafft.“ Politik, erklärt er, „ist doch viel mehr als der Gang zur Wahlurne.“ Wer die politische Mitsprache auf den Stimmzettel beschränken wolle, fördere die Entstehung einer „Analphabeten-Demokratie“, die die westliche Gesellschaft anfällig für totalitäre Strömungen machen könne.
Sein Glanzstück war ein Aktien-Coup. Verhandlungen mit einem großen Konzern um die Einstellung von mehr Afro-Amerikanern hatten sich festgefahren, bis er folgende Idee hatte: Er streute das Gerücht aus, daß sämtliche Kirchen mit Aktienbesitz an diesem Unternehmen gebeten werden sollten, ihr Stimmrecht für ihre Papiere auf die Afro-Amerikaner zu übertragen. Daraufhin gab der Konzern sofort nach. „Diese Nummer ist wiederholbar“, meint Chambers – „auch im ganz großen Stil“. Wenn nur eine Million Amerikaner dem Präsidenten drohten, ihre Konten, Versicherungen und Wertpapiere zu kündigen, könnten sie ungeheuren Einfluß nehmen – sogar Kriege verhindern. Chambers nennt das den „Guerilla-Angriff der Mittelklasse“.
Diese Strategie zur Stärkung der Benachteiligten -„Empowerment“ genannt – wird in den USA zum großen Teil von der katholischen Kirche getragen. Viele seiner Organisatoren sind ihr eng verbunden. Pater Joe Hacala von der Chicagoer Loyola-Universität, der für die Bürgerbewegung 250 Millionen Dollar locker machte, begründet sein Engagement mit dem berühmten Jesu-Wort: „Wenn du den Hungernden helfen willst, geh nicht für sie fischen – sondern lehr sie, für sich selber zu fischen!“
Nachdem die Idee der Bürgergewerkschaften in den 80er Jahren in Südostasien und Indien Fuß gefaßt hat, gewinnt sie jetzt auch in Europa immer mehr Anhänger. In der britischen Hauptstadt schlossen sich 30 verschiedene Organisationen vor drei Jahren zur „The East London Communities Organisation“ (TELCO) zusammen und setzte durch, daß Unternehmen im Hafenviertel dort ansässige Arbeitslose einstellen.
Seit zwei Jahren ist die neue Bürgerbewegung nunmehr auch in deutschen Städten aktiv. In München gingen Bürger gegen Pläne des FC Bayern auf die Barrikaden, in unmittelbarer des 12 000 Einwohner großen Olympiadorfs ein Superstadion zu errichten. Als sie drohten, im Vorgarten von Bayern-Präsident Franz Beckenbauer ein Fußballspiel mit all den bei diesen Veranstaltungen üblichen Exzessen zu inszenieren, verabschiedeten sich die Kicker vom „Kaiserpalast“. In Osnabrück laufen die Vorbereitungen für die Gründungsversammlung einer stadtweiten Koalition aus 30 gewichtigen Institutionen, die auf die Rathausgeschäfte entscheidend Einfluß nehmen will. In Deutschlands Hauptstadt beackert der Kaplan und langjährige IAF-Organisator Dr. Leo Penta zusammen mit Berliner Mitstreitern die „Graswurzeln“. Bei der Aufbauarbeit legt er größten Wert auf eine solide finanzielle Grundlage. „Auch hierzulande bieten sich als Sponsoren die Kirchen an“, meint Penta.
Organisatoren haben sich in ganz Deutschland zu einer bundesweiten Dachorganisation zusammengeschlossen, dem „Forum für Community Organizing“, kurz FOCO. Mitglied Horst Schiermeyer erhofft sich davon Impulse für das gesamte öffentliche Leben, nachdem die Grünen jetzt in der Regierungsverantwortung stehen und als Erneuerungskraft Profil verlieren. „Schon vorher hat sich ihr außerparlamentarisches Standbein stark abgeschliffen“, bemängelt Schiermeyer, „die Basisgliederungen schmoren im eigenen Saft“. Flugblätter und Info-Tische reichten heute nicht mehr aus, um die Bürger zu motivieren. Nur „Graswurzel-Arbeit“, das Aufbauen von neuen Bürger-Netzwerken, könne Gegenmacht organisieren, „die auch Druck auf eine rotgrüne Regierung macht“, so Schiermeyer. Grundsätzlich eigene sich dieser Ansatz, „um die Arbeit der bestehenden Bürgerinitiativen, Gewerkschaften, Kirchen, Umwelt- und Frauenverbände zu intensivieren und die Basis wiederzubeleben und auf eine neue Ebene zu heben“.
Wolfgang C. Goede