Saul Alinsky war ein Anwalt der Menschen am Rande der Gesellschaft und Ausgegrenzten. Aus der Ohnmacht zur Macht: Das ist ein zentrales, breit streuendes soziales Thema. Nicht nur traditionelle Bürgerinitiativen sowie die schwer definierbare Zivilgesellschaft erhalten durch den Anspruch auf Teilnahme an Entscheidungsprozessen einen schärferen Fokus und ein attraktiveres Profil. Von der Wiege bis zur Bahre, alles dreht sich in unserem Leben und Kosmos um eines: Macht – und zwar im wenig gewürdigten positiven Sinne! Dieser Beitrag blättert einen ganzheitlich-holistischen Ansatz der Alinsky’schen Machtlehre auf. Sie prägt eine innere Einstellung und ist ein Kompass, der den Geist, auch die Seele, sogar den Körper einnordet. In der Nachbarschaft, in Selbsthilfegruppen, in der Wissenschaftskommunikation, selbst beim Rudern kommen wir damit zum Ziel.
Der große Meister, Saul Alinsky, war gerade hundert Tage tot, als ich im Herbst 1972 nach Chicago kam. Ich war Freiwilliger von Aktion Sühnezeichen//Friedensdienste und wollte im Community Organizing ein freiwilliges soziales Jahr absolvieren. „To give underdogs a voice“, das passte in die Zeit. In Deutschland war mir die Studentenbewegung viel zu theoretisch geblieben. Was ich als 21-Jähriger erlebte, war genau das Gegenteil: Handeln und Aktion. Das war so faszinierend, dass ich vier Jahre lang Community Organizer blieb und dies als die Universität meines Lebens, meinen Spiritus rector erachte.
Mit zwei anderen Deutschen, Reinhard und Pit, arbeitete ich in Südwest-Chicago. Das war ein bisschen wie „High Noon“. Afroamerikaner zogen von Osten her in den weißen Ortsteil, was für heftige Unruhe sorgte. Unsere Arbeit sollte zur Stabilisierung beitragen. Wir organisierten Weiß und Schwarz zunächst getrennt und wollten später, so die Theorie, die beiden Gruppen mit Themen gemeinsamen Interesses verschmelzen. Zunächst einmal war ich ein radebrechender Ausländer, was im Umgang mit den Afroamerikanern von Vorteil war, weil ich des Rassismus unverdächtig schien. Viele Weiße dagegen glaubten in mir den „schmutzigen Italiener“ oder „kommunistischen Deutschen“ zu sehen. Die Litauer öffneten beim abendlichen Klinkenputzen zum Erforschen der Probleme in ihren Wohnblöcken erst gar nicht.
Um den Fuß in die Tür zu kriegen, organisierte ich die weiße, katholische Mittelklasse gegen einen Porno-Shop. Das fühlte sich komisch an, funktionierte aber. Die Schwarzen, so sah es aus, wollten gegen die sich in ihrem Viertel großteils unsichtbar machende Polizei aufbegehren. Nur, am Ende erschienen die Betroffenen gar nicht zur Versammlung, lediglich die getreue Gefolgschaft eines gewissen Pfarrer Lawlor. Sie legte mir nahe, als „Nigger-Lover“ mich doch zum Teufel zu scheren.
Im Südwesten wurzelte der Rassismus so tief, dass die American Nazi-Party hier ihr Quartier aufgeschlagen hatte. Deren Führer empfing mich hackenschlagend vor einem überlebensgroßen Hitlerbild. Als Community Organizer und Alinsky-Eleve wollte ich natürlich meine Hausaufgaben gut machen, wozu auch gehörte, die Machtstruktur im Viertel zu studieren und wie auf einem Schachbrett die Schlüsselfiguren zu kennen. Es war der Höhepunkt des Vietnamkriegs und des Wahlkampf, Nixon lief Sturm gegen McGovern, junge Leute flüchteten aus Angst vor ihrer Einberufung nach Kanada. Dazu dieser in SA-Uniform und mit Hitlerbärtchen auftretende US-Amerikaner, der mir schneidig sagte: „Wenn wir im Weißen Haus sind, schippern wir alle Schwarzen nach Afrika zurück.“
Rasch machte die Ankunft der „Germans“ als Alinsky-Azubis die Runde. Alsbald läutete Mike Royko im Büro an, ein US-bekannter Kolumnist, für seine scharfe Zunge gefürchtet und ein treffsicherer Analytiker der Macht und Chicagos politischer Maschine. Die irische Vetternwirtschaft und Korruption in der Stadt stellte er gnadenlos bloß. Sein Buch über den langjährigen Bürgermeister Mayor Daley, der an Franz Joseph Strauß erinnert, ist ein Lehrbuch des politischen Machterwerbs, spannend wie ein Krimi, wie brutal und amoralisch die politische Maschine Chicagos arbeitete. Dieses System musste Menschen wie Al Capone auf der einen Seite, und Saul Alinsky auf der anderen Seite hervorbringen. Royko jedenfalls wollte ein Interview mit uns. Der Leiter unserer Organisation lehnte natürlich ab, doch schade: Sein Blick auf uns Deutsche als Novizen des Community Organizing in dem Chicagoer Haifischbecken wäre ein bis heute erkenntnisreiches Schlaglicht gewesen.
Fakt ist, dass die knallbunte ethnische und kulturelle Vielfalt der Metropole am Michigansee die Brisanz einer Knallgasmischung hatte, die ich bis dahin nur aus Versuchen im Chemieunterricht gekannt hatte. Aber gleichzeitig war da noch etwas, eine Ingredienz, die an die Frische und das Prickeln eines guten Cocktails erinnerte. Er riss die Schranken des Denkens und der Konvention nieder, liess neue Horizonte aufblitzen und wirkte als Energiespritze, ebensolche anzusteuern.
Damit etwa läßt sich die Qualität und das Niveau der Mitarbeiterkonferenzen beschreiben, die meistens montags nach den Nachbarschaftsversammlungen gegen 22 Uhr begannen und sich manchmal fast bis zum Morgengrauen hinzogen. Ab Mitternacht begann sich eine wachsende Wand aus Bierbüchsen auf dem Konferenztisch aufzubauen, Vierbuchstabenwörter und Flüche flogen hin und her. Dabei wurde dennoch beeindruckend kreative und produktive Denkarbeit geleistet, die mir bis dahin in diesem Stil unbekannt gewesen war.
Bei jedem Teilnehmer wurden gemeinschaftlich die W-Fragen abgeleitet:
Wo sitzt das Problem in der Nachbarschaft?
- Wie lässt es sich in konkreten Worten beschreiben?
- Ist es unmittelbar und lässt es sich wirklich in den Griff kiegen?
- Wie viele Leute haben davon gesprochen und wie mehrheitsfähig ist es?
- Wer sind für die Führungsspitze die Schlüsselpersonen?
- Welche Person hätte genug Führungsstil und Charisma zur Leitung einer Versammlung?
- Welche anderen unterstützen ihn im Saal mit Argumenten und Rückendeckung?
Dann ging es in die Vertiefung und Umsetzung:
- Wie lässt sich das Thema polarisieren?
- Wer also ist verantwortlich für das Problem?
- Welche Forderungen sollten diesem Gegner gestellt werden?
- Was geschieht im Falle einer Ablehnung oder wenn er gar nicht erscheint?
- Sollten vor dem Versammlungslokal schon Busse warten, um den säumigen Gast zu Hause mit den Teilnehmern aufzusuchen, praktischerweise vielleicht gleich zusammen mit der Presse?
- Wäre es sinnvoller, ihn am nächsten Tag in seinem Büro einen Überraschungsbesuch abzustatten?
- Oder sollte man gleich zu seinem Boss gehen, womöglich sogar zum Bürgermeister?
- Wie müssten die Verhandlungen sich gestalten, was waren die harten Forderungen, welches nur Drohungen?
- Wer vor allem musste in der Nachbarschaft mit wem sprechen, damit die Strategie Realität wurde?
Die Taktiken und Strategien waren wie bei jedem Fußballspiel. Die Bürger mussten um jeden Preis gewinnen, im Clinch mit ihrem Gegner, nur so verwandelten sie ihre Ohnmacht in Macht, entwickelten sie Selbstbewusstsein und ließen sich von Behörden und Politikern nicht länger gängeln.
Die nächtliche Konferenz geriet mitunter zum Bolzplatz zur Einübung dieser Bürgertugenden. Als Berater stieß jeden Montag Tom Gaudette zu uns, im Zweiten Weltkrieg Bomberpilot, danach Industriemanager, bis er Saul Alinsky über den Weg lief, der ihn als Community Organizer rekrutierte, einen richtig taffen Hard-Chore-Mann.
Tom arbeitete mit persönlicher Provokation samt Body-Check, schickte seine Trainees durch die Hölle und ließ ihnen dabei eine Erziehung angedeihen, die manch einer nie vergaß. Etwa der Sohn eines Ostküsten-Senators, Harvardabsolvent, mütterlicherseits mit Roosevelt verwandt, Helfer in der verloren gegangenen McGovern-Kampagne. Danach trat er in die Community Organisation ein. Bob war ein idealistischer Schöngeist, weich und eher unbestimmt im Umgang mit Menschen, bis ihm eines Nachts Tom auf die Seite rückte, ihn stieß, immer heftiger, so dass er fast vom Stuhl kippte. „Was für ein Organizer bist du”, zischte Tom, “der sich von seinen eigenen Truppen so herumschubsen lässt?“ Daraufhin explodierte der vornehme Bob, stieß seinen Widersacher zurück und brüllte: „Du schubst mich nie mehr herum!“ Woraufhin Tom zufrieden grinste und Bob ein gradliniger, zupackender Organizer wurde, der seine Leute forderte, bis zum heutigen Tag.
Aus diesem Holz muss auch Saul Alinsky geschnitzt gewesen sein, denke ich mir seit damals.
Vierzig Jahre später. Im März 2012 treffe ich Bob sowie einige der alten Weggefährten wieder und nehme die alten Wirkstätten in Augenschein. Mich erwartet eine spiegelverkehrte Welt. Südwest-Chicago, einst ein properer und geschleckter Mittelklassenstadtteil, sieht ziemlich heruntergekommen aus, viele leerstehende, mit Holzplatten zugenagelte, verlassene Häuser, ein Wohnquartier auf der Kippe. Das, obwohl zwei große Organisationen um sein Wohl kämpfen, das „Southwest Organizing Project“, eine klassische Community Organisation, und die “Southwest Development Corporation”. Sie gehört einer neuen Methodenschule an, dem Comprehensive Community Development, das ganze Entwicklungspläne für Stadtteile entwirft.
Die beiden Bündnispartner trugen dazu bei, dass Südwest-Chicago an das S-Bahn-Netz angeschlossen, wichtige Industrien angelockt, altengerechte Wohnungen gebaut und die Gesundheitsversorgung verbessert wurde. Doch trotz all dieser Mühen steht das Gebiet unter erheblichen Druck. Heute leben dort hauptsächlich Afroamerikaner, Latinos und Einwanderer aus arabischen Ländern, wenig einkommensstark, dafür aber engagiert. Ohne deren Einsatz, mit den beiden Organisationen als Katalysator und Treiber, wäre der Stadtteil heute vermutlich ein Slum.
Das heutige Südwest erinnert stark an das Uptown vor 40 Jahren. Nach einjähriger Lehrzeit war ich als Community Organizer in den Norden der Stadt gewechselt. In Uptown arbeitete ich in einer Kirchengemeinde unter dem Schirm der Katholischen Charitas, die damals erhebliche Gelder in die Stabilisierung wackeliger Nachbarschaften fließen ließ. In einer solchen wirkte ich fast zwei Jahre lang, organisierte mehrere hundert Veranstaltungen, die Tausende von Betroffenen auf die Beine brachten.
Es ging um die ganze Palette der einschlägigen Themen von Problemnachbarschaften: erodierende Wohnqualität und Slumlandlords, Zunahme der Kriminalität bei gleichzeitigem Rückgang der Polizeipräsenz, unbefriedigende Leistungen für Wohlfahrtsempfänger. Zielscheibe wurde häufig der Stadtrat Chris Cohen, ein Jude, der sich am Ende von mir, dem Deutschen, fast verfolgt gefühlt hatte. Was für eine böse Ironie des Schicksals, wo ich doch als Freiwilliger einer Friedensorganisation nach Chicago gekommen war, die Sühnebereitschaft gegenüber Juden unter Beweis stellen wollte. Immerhin, etwas ist bei Cohen hängen gebieben, heute nennt sich der Anwalt einen Graswurzel-Politiker.
Der Kampf im Stadtteil ums Überleben war ein erbitterter und trotz vieler Verbesserungen langfristig kaum zu gewinnen. Das zeichnete sich damals schon ab. Uptown grenzt an den Michigansee und ist eine Premium-Zone mit schwindelerregend hohen Grundstückspreisen – für die Immobilienwirtschaft enorm lukrativ. Als ich im Jahr 2012 durch mein altes Revier ging, erkannte ich es kaum wieder. Ganze Straßenblöcke waren ausradiert und neu erstanden, alles piekfein und sauteuer. Statt Puerto Ricaner und Mexikaner, von denen viele wahrscheinlich in Südwest gelandet waren, sah ich wohlhabende Kleinfamilien und Singles. Uptown war gentrifiziert worden. Keiner hatte die Macht besessen, der Fresssucht der Immobilien-Haie Einhalt zu gebieten.
Kein gelungenes Gesellenstück des Organizing, dachte ich deprimiert. Gentrifizierung, mittlerweile auch in Deutschland ein geläufiger Begriff und in vielen Städten wie Berlin und München am Werk, ist der Hauptkiller von Nachbarschaften in US-Städten, gegen den Community Organizing, mangels ausreichender Gegen-Macht, immer noch zu oft verliert, seit neustem sogar im New Yorker Harlem. Das schreibt Mike Miller, mit 75 Lebensjahren einer der dienstältesten Community Organizer. In den 1960-er Jahren organisierte er bereits in Berkeley Studenten gegen den Vietnamkrieg, arbeitete wie Gaudette für Saul Alinsky und schuf sein Lebenswerk: die Mission Coalition Organization (MCO) in San Francisco.
Als mich meine Kirche in Uptown feuerte, nachdem vermögende und einflussreiche Gemeindemitglieder sich über meine Arbeit beschwert hatten, ging ich in die Stadt am Golden Gate als Organizer. Ich bewarb mich auch bei Miller und traf mich mit ihm zum Mittagessen. Schon damals war ich von ihm tief beeindruckt – und bin es immer noch. Seine Lebenserinnerungen “A Community Organizer’s Tale” gehören zum Besten in der umfangreichen Literatur über diese Branche. Darin schreibt er, dass nur ein Bündnis von hundert Organisationen den “Bulldozer” bremsen konnte, die den Mission Distrikt planieren wollten. Im Jahr 2008, zum 40. Jubiläum der MCO, fiel der Widerstand allmählich in sich zusammen. Der Druck aus dem Silicon Valley im Süden war übermächtig geworden, alte Wohnquartiere und morbide Taco-Imbisse wurden ersetzt durch teure Restaurants, Boutiquen, Luxus-Apartments. Meine letzte Korrespondenz mit Mike geht auf das Jahr 1975 zurück. Seinen Brief von damals unterzeichnete er mit “in the struggle”. Ob ich wohl ein Organizer geblieben wäre, wenn ich bei ihm angeheuert hätte?, fragte ich mich bei meiner Uptown-Visite. Nach einem anstrengenden Jahr an der südlichen Stadtgrenze in der Outer Mission hatte ich den Beruf quittiert.
Glücklicherweise hatte ich ein Meisterstück des Community Organizing eine Zeitlang mitbegleiten dürfen. Das Uptown-Projekt war Teil einer stadtweiten Koalition, die sich einer Misere auf dem Wohnungs- und Häusermarkt annahm. Es waren nicht nur die Slumlandlords, die ihren Besitz verkommen ließen. Der Schuldfinger richtete sich auf die Banken, die Hausbesitzer richtig erwürgten, indem sie ihnen kein Geld für Reparaturen liehen. So wuchs das Stadtbündnis zu einer landesweiten Koalition zusammen, unter Führung von Gale Cincotta und Shel Trapp. Der haarlose, ewig kaugummikauende, auf Zahnstochern herumbeißende sowie dauerrauchende Trapp war der Stratege, sie die auch mit ihrer körperlichen Masse sämtliche Widerstände überrollende Anführerin. Im landesweiten Bündnis National People’s Action zog das Duo Menschen aus den ganzen USA in der Wall Street zusammen und ließ Haie jeder Größe und Couleur zum New Yorker Himmel aufsteigen. Mit solchen Aktionen, die auch Senatoren nicht verschonten, erreichten sie, dass Washington ein Gesetz verabschiedete, das die Banken dazu zwang, ihre Gelder in ärmere Stadtteile zurückfließen zu lassen.
Gale war eine leidenschaftliche Kämpferin mit einer untrüglichen Witterung für Macht. Sie wusste, wie sich diese in die Knie zwingen ließ, um sie mit Bürgern zu teilen – immer mit Orkanstärke unterwegs, wovon das unlängst erschienene Buch “Gale Force” Zeugnis ablegt. Die Occupy-Bewegung könnte von Gale Cincotta lernen, wie Kunden und Verbraucher, Bürger und Wähler mit und vor allem über Geldinstitute mit ihren politischen Vertretern in Verhandlungen treten!
Da war ich, 40 Jahre später, wieder in der “Windy City”, Heimat und Bühne Saul Alinskys, Mekka des Community Organizing und der Bürger-Partizipation, Arena des Ringkampfs um die Macht. Grund meines Hierseins war eine Einladung zur US-weiten Konferenz “Getting It Done II. Building Strong Communities In A Changing World”. Die Vorsitzende des Netzwerks Gemeinsinn e.V., Maren Schüpphaus und ich sollten die Veranstaltung mit einer Präsentation über die Beteiligung in Deutschland bereichern. In “Social Empowerment Made in Germany” lobten wir die Fortschritte in der Alltagsdemokratie, beklagten indes die “Betreuungs- statt Beteiligungskultur” (Oliver Fehren, Alice Salomon Hochschule Berlin), den von oben nach unten – top down – durchregierenden Sozialstaat und die “partizipatorische Klassengesellschaft” (Franz Kohout, Universität der Bundeswehr München), die eine Beteiligung der unteren sozialen Schichten und Migranten infolge mangelnder Bildung nicht zulässt. Wir verliehen unserer Hoffnung Ausdruck, dass US-amerikanische Graswurzelmodelle wie Community Organizing und Comprehensive Community Development die Beteiligungskultur Deutschlands befruchten mögen. Zum ersteren hatte das in München basierte Netzwerk mehrere Trainings und Seminare durchgeführt, zum Letzteren im September 2011 eine Europa-Premiere veranstaltet.
Drüben bei uns regierte die arrivierte Graswurzel-Elite, hier kämpften die wirklichen Graswurzeler darum, gehört zu werden, nicht anders übrigens als vor 40 Jahren. Knapp tausend Menschen aus den Weddings, Hasenbergls, Altonas der US-Metropolen beschlossen mit allen Mitteln gegen ihre gepante weitere Verarmung vorzugehen. US-Präsident Bushs Kriege sowie seine Steuererleichterungen für die Wohlhabenden, so ein Finanzexperte aus der Bundeshauptstadt auf dem Podium, verursachen im Jahr 2013 ein Haushaltsdefizit von etlichen Milliarden Dollar. “Wenn wir nicht sofort gegensteuern”, warnten Rednerinnen von Cincotta-Format, “fällt dieser Klotz den Armen auf den Füssen!” Andere sprachen von einer Guillotine.
Sehr beeindruckend auch die Zwischentöne. Eine Bewohnerin der berüchtigten Chicago South Side ließ die durchgefeilte Konferenz-Dramaturgie für einige Minuten platzen, als sie sich spontan zu Wort meldete. “Der Süden liegt im Krieg, Gangs beschießen sich pausenlos”, klagte sie in den Saal, worauf keiner eine Antwort wusste. Damals wie heute, der Süden Chicagos sieht aus wie nach einem Bombenangriff, viele Ruinen und leere Grundstücke. Dort und noch weiter südlich war einst der heutige US-Präsident Barack Obama Community Organizer, über den die zum großen Teil afroamerikanischen Teilnehmer wenig Schmeichelhaftes zu berichten wussten, nicht alle so diplomatisch wie Clarence Page, Senior-Reporter des Chicago Tribune: Obama habe zwar Hoffnung versprochen, die sei aber nach fast vier Jahren nicht größer geworden, sagte er über den “obersten kommandierenden Community Organizer” im Weißen Haus, wie einige aus der Community-Szene ihren Präsidenten nennen.
Die jahrelange Wirtschafts- und Wohnungskrise nagen an Obama, den Nachbarschaften, der ganzen Nation. Als ich in einer Konferenzpause durch Downtown schlendere, kreischt über mir die “L”, Chicagos S-Bahn, erbaut Ende des 19. Jahrhunderts, seither kaum modernisiert. Auf den Straßen fahren jahrzehntealte Taxis mit Fünf-Liter-Motoren. Ich versuche zu vergleichen. Wir in Deutschland mögen vielleicht immer noch sehr obrigkeitsgesteuert und theoretisch in der Denke sein, dennoch haben wir eine eigene Graswurzeldynamik hervorgebracht, die ihresgleichen sucht: die Umweltbewegung, deren Anhänger den Marsch durch die Institutionen antraten und heute im gesellschaftlichen Hauptstrom schwimmen und für den Durchmarsch der erneuerbaren Energien sorgten. Die energie- und umwelttechnischen Unterschiede auf beiden Seiten des Atlantiks sind gewaltig und stechen ins Auge. Beide Bewegungen, hüben und drüben, könnten und sollten voneinander lernen, in beiderlei Richtungen.
Auf dem Rückflug scanne ich in meinem Kopf die beiden Welten durch. Zwischen US-Amerika und Deutschland klaffen erhebliche mental-kulturelle sowie historisch-soziologische Unterschiede, manchmal schluchtentief. Dort drüben die Einwanderergesellschaft, die ihrer Heimat, meist aus Not und Verfolgung, den Rücken kehrte, um ein paar Krümel Torte des amerikanischen Traums abzubekommen, der mit einer Revolution begann. Hier die alte Ständegesellschaft, die sich zwar auf dem Weg in die Gegenwart Stück für Stück reformierte, aber totalitäre Verwerfungen allerschlimmster Art hervorbrachte: den Nationalsozialismus und den Kommunismus. Beide verstanden sich auch als Graswurzelbewegungen, die in einen Welt- und Atomkrieg sowie den Holocaust mündeten, die Mega-GAUs der Politik, die uns bis heute nicht loslassen; auch immer noch sichtbar, physisch und in die Seele der Deutschen eingestanzt, sind Mauer, Schießbefehl, Stasi. Deshalb gibt es hierzulande ein, berechtigtes, Misstrauen gegenüber der Basis und der “Weisheit der Masse”. Mein Engagement für das Graswurzeldenken bringt mir bei Nachbarn und Kollegen nicht nur Freunde ein, für manche scheint das ein Schimpfwort, ja eine Bedrohung zu sein.
Zugegeben, die repräsentative Demokratie ist ein großer Fortschritt, nur die Vertreter der Bürger müssen wirksamer kontrolliert werden, so wie jeder anderer Inhaber von Macht auch. Die berühmten “Checks and Balances” der Westminster Demokratie, unser britisches Weltpolitikerbe, erfahren durch Community Organizing eine wichtige Verstärkung nach unten. Neben Opposition, Gerichten und Presse wird der Bürger direkt eingebunden, als Kontrolleur, Verteidiger, auch Stürmer. Das hatte letztlich auch das Grundgesetz im Auge, das in Artikel 20 vorschreibt: “Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus” – und n i c h t von den Parteien, die den Willen lediglich umsetzen sollen, wie Staatsministerin a.D. Hildegard Hamm-Brücher und 1994 Kandidatin für das Amt des Bundespräsidenten nie müde geworden ist zu betonen. Aus den Umbrüchen in der deutschen Politikgeschichte ist ein vielfach beklagter Parteienstaat hervorgegangen, der in den letzten Jahrzehnten sein Gegengewicht in einer modernen Bürgerdemokratie findet, in der Beteiligungsmethoden unterschiedlichster Couleur und Herkunft auf dem Prüfstand stehen. Bei der Gestaltung der Partizipation sind die Deutschen indes, ihrem Naturell gemäß, theoretischer, methodischer, vorsichtiger.
“Wir wollen doch keine neue Partei gründen”, entgegnete mir Pfarrer Heinz Summerer, als ich ihm und seinem evangelischen Amtskollegen Mitte der 1990-er Jahre die Grundlagen des Community Organizing auseinandersetzte. Ersterer ist ein Urgestein des Olympiadorfes in München, seit 20 Jahren mein Kiez, seiner seit über 40 Jahren. Vernetzung und mehr Mitsprache der Oly-Dörfler in kommunalen Angelegenheiten, das ging selbst dem protestantischen Geistlichen damals zu weit. Immerhin, als bald darauf die Landeshauptstadt München Pläne verfolgte, nach denen für die Fußballweltmeisterschaft 2006 neben dem fußballbewährten Leichtathletikstadion im Olympiapark ein moderner Fußballpalast entstehen sollte, ein “richtiger Hexenkessel mit steil emporsteigenden Rängen”, wie Franz Beckenbauer schwärmte, reihten die beiden Pfarrer sich rasch in die wachsende Phalanx des Widerstandes ein.
Ungewöhnlich und mutig: Nach einer Sonntagsmesse führte der Katholik alle Kirchgänger an den angedachten Standort, einen längeren Steinwurf entfernt von den Wohnungen der 7000 Bewohner. Oberbürgermeister Christian Ude, der sich “Bürgerkönig” nennt und 2013 für das Amt des bayerischen Ministerpräsidenten kandidiert, seine Fußball-Einflüsterer und die Wirtschaft gingen erst mal in Deckung, um dann noch mal mit voller Macht loszuschlagen, als die WM näherrückte und alle anderen Standort- und Umbau-Optionen sich zerschlugen. Die Monsterarena, quasi im Hof des dicht besiedelten Olympiadorfs, kam bedrohlich näher.
Ich war damals unlängst von einer journalistischen Recherche über Community Organizing aus den USA zurückgekehrt und hatte dabei auch meinen alten Organizer-Kollegen Ed Shurna getroffen. Der hatte von Protestaktionen gegen ein neues Baseballstadion vor den Häusern der Vorstände erzählt, was mich dazu inspirierte, ein Protestfußballspiel vor Beckenbauers Wohnsitz im österreichischen Kitzbühl ins Gespräch zu bringen, mit allen fußballtypischen Exzessen: Schlachtengesängen, zerbrochenen Bierflaschen, Pinkeln an Nachbars Zäune. Die liberalen Mitstreiter schmunzelten, die CSU-nahen schäumten. Am Ende brachte ein Mix aus Konventionalitäten, mutiger Offensive und Event-Aktionismus den Sieg.
Medienwirksame Demos und Verhandlungen mit Rathausvertretern; beim traditionellen Sommerfest im Oly-Dorf präsentierten wir uns als ein von den Römern bedrängtes Kleinbonum; bei der letzten großen Einwohnerversammlung an einem 30. April, in Bayern auch Frei- und Hexennacht genannt, verkleideten wir uns als Bibi-Blocksberg-Trupp und hexten mit Zauberbrezeln den drohenden Hexelkessel einfach weg. Vor hochrangiger Polit-Prominenz bekräftigten alle Sprecher die Absicht, den Bau durch Anrufen sämtlicher gerichtlichen Instanzen maximal zu verzögern. Das schließlich wirkte, das Ergebnis: Die großen Fußballschlachten der Bayern-München-Stars finden an der spärlichen besiedelten nördlichen Stadtgrenze statt.
Pate bei diesem Abwehrkampf standen Lektionen aus dem Community Organizing. Die empfehlen, dass es nicht so sehr um den Sieg geht, sondern um die Vorwärts-Dynamik und deren Veredelung in weitere Projekte. Das ist gelungen. Das Ringen war so turbulent, beseelte so viele bisher nicht in Erscheinung getretene Menschen, dass das Münchner Olympiadorf zu seinem 40. Jubiläum auf bedeutende Sozialinnovationen verweisen kann. Gründung der Genossenschaft Olywelt, die alle Geschäfte aufkaufen will, um der zersplitterten “Einkaufsmeile” ein einheitliches, attraktives Gesicht zu geben. Sie ist das Rückgrat des Dorfes und hält es zusammen. Der seit Jahren beobachtbare Zerfall beeinträchtigt das Erscheinungsbild des Ortsteils und seine Stabilität. “Bürger nehmen die Nahversorung in eigene Hände”, schrieb anerkennend die “Süddeutsche Zeitung”. Ganz neu ist ein zweites Novum, der Denk-Tank “Dorf der Zukunft”, der in den nächsten zehn Jahren eine zeitgemäße und lokale Energieversorgung mit Erneuerbaren auf der Agenda hat, aber auch moderne Lebensformen wie in Wohngemeinschaften.
Saul Alinskys Instrumentarium greift weit über die nachbarschaftlich-kommunale Ebene hinaus. Letztlich geht es, wie Gaudettes Umgang mit seinen Organizern zeigte, um praktische Psychologie, das Selbstverständnis als Mensch, was er für sich und mit seinem Leben bewirken kann. “Macht”, in der Ur-Definition, kommt von der Fähigkeit, zu “machen”. Darüber muss sich der “Macher” selbst erst einmal klar werden. Das alles ist in Deutschland ein weitgehend vermintes Feld, erinnert es uns doch an Nietzsches “Übermenschen” sowie eine Historie von Machtmissbrauch, von den Preußenkönigen bis Honecker. Im engen Zusammenhang damit stehen die Begriffe Ermächtigung und Selbstermächtigung, vielen bisher auch suspekt und erst in jüngster Zeit durch Bundespräsident Joachim Gauck und dessen Rhetorik popularisiert. Damit sind letztlich der Mut und die Zivilcourage gemeint, sich in das Leben, vor allem sein eigenes einzumischen, es zu reiten, anstatt geritten zu werden.
Auf dieser ganz elementaren Machtebene merkte ich mit Ende 30, wie mir die Zügel zunehmend entglitten. Nach einem Parforceritt durch das Studium mit zwischenzeitlicher Familiengründung sowie Etablierung im Beruf ging mir die Puste aus, fühlte ich mich immer verzagter, schwankte ich zwischen Panikattacken und Depressionen, schleppte mich gerade nur noch durch mein Leben. Statt mich in die Psychiatrie in der Münchner Nussbaumstraße auszuliefern, schloss ich mich der damals relativ neuen Selbsthilfebewegung an und vertraute mich der Angstselbsthilfe an, einen Spruch von Shel Trapp im Ohr: “Ein Organizer kann alles.”
Das alles half mir wieder auf die Beine. Ich erkannte meine Defizite, auch die emotionalen, und lernte darüber zu sprechen sowie all das zu machen, was ich bisher vermieden hatte. Als jahrelanger Gesprächsleiter von Angstgruppen erfuhr ich, dass Macht von innen heraus kommt. Nur die Teilnehmer, die sich ihren Seelenpeinigern und persönlichen Teufelchen gegenüber öffneten, nicht vor ihnen wegrannten, sondern sie als Triebfeder nutzten, konnten ihre Lebenssituation nachhaltig verändern und fanden Auswege aus der Seelenlähmung.
Gleichzeitig diente die Selbsthilfe den Beteiligten als politische Erziehung. Bei der Stadt, Parteien und Krankenkassen das Anliegen zu erklären, sich selber als neuer Mitspieler im öffentlichen Gesundheitssystem vorzustellen und dafür Gelder einzufordern, das erinnerte an zahllose Aktionen des Community Organizing in Chicago und San Francisco sowie der damals schon hoch entwickelten Kunst des Geldsammelns//Fundraising. Münchens Grüne und Rote, einst selbst aus der Graswurzelbewegung gekommen, waren viel kooperativer als die Schwarzen, die in der Selbsthilfe den umstürzlerischen Versuch witterten, die Autorität des Staates zu untergraben.
Die Selbsthilfebewegung war ein wichtiger Vorläufer und später Begleiter des freiwilligen bürgerschaftlichen Engagements. Die gibt es mittlerweile in immer mehr Varianten, von der Betreuung Kranker durch Rentner bis zu Großeinsätzen der Mitarbeiter von Konzernen für Obdachlose. Sie alle tragen zur Zivilgesellschaft bei, über die der Münchner Soziologe Ulrich Beck einmal hämte, sie sei so amorph wie ein Pudding, den man vergeblich an die Wand zu nageln versuche. “Mitnichten”, konterte das Bündnis zur Erneuerung der Demokratie BED, das im Jahr 2003 die in München gewählten Bundestagsabgeordneten zu einem öffentlichen Rechenschaftsbericht einlud. Unsere Forderung: Einrichtung eines parteiunabhängigen Bürgerforums als Sprachrohr der Zivilgesellschaft; des weiteren die Erhebung eines Demokratie-Cents zur finanziellen Unterstützung zivilgesellschafticher Gruppierungen. In Anlehnung an Hildegard Hamm-Brücher sollte er ein Prozent der staatlichen Zuwendungen an die Parteien betragen. Deren Einkünfte mit den Bürgern zu teilen, darüber mockierten sich einige Volksvertreter wie Axel Berg von der SPD.
Das Ganze war damals, vor einem Jahrzehnt, zu abgehoben und visionär, um wirklich verstanden zu werden. Aus Sicht des Organizing ein Flop, die Sprecher hakten kaum nach, der Versammlungsleiter war ein Journalist, der wenig von der Thematik verstand, die 50 Teilnehmer interessiert, aber nicht betroffen. Die W-Fragen, die uns Gaudette eingehämmert hatte, wurden nie abgearbeitet. Heute ist die politische Einbeziehung der allgegenwärtig gewordenen Zivilgesellschaft sowie deren Finanzierung aktueller denn je. Die neu entstandenen Bürgerplattformen, die den herkömmlichen Bürgerinitiativen zur Seite treten und ersetzen, verstehen sich als Akteure der Zivilgesellschaft. Bundespräsident Gauck hätte das Kaliber, das alles zu einem großen gesellschaftlichen Thema zu machen, unter anderem auch den folgenden Aspekt davon.
Die entwickelte Zivilgesellschaft hat uns mittlerweile eine neue politische Bühne erschlossen. Darauf lässt sich Partizipation in anderen, bisher nicht bekannten Formen inszenieren. Sie gehen über die basale Armutsbekämpfung und das traditionelle Empowerment weit hinaus. Gemeint ist das weite Feld der Forschung. In Naturwissenschaften und Technologie werden heute, mehr als in der Politik, die Weichen in unsere Zukunft gestellt. Ob in den Fragen von Energieversorgung und Umweltschutz, Ernährung und Wasserversorgung, des Einsatzes von Robotern und elektronischer Netzwerke sowie Integration dieser Forschungsprojekte in die Gesellschaft: Wissenschaft begleitet uns in diesem Jahrhundert, mehr denn je, von der Wiege bis zur Bahre – doch bisher wird sie willenlos übergestülpt.
Die Bastionen weltweiter Forschung sind viel mächtiger geworden als der Papst und sein Kirchenstaat. Sie werden genau so wenig kontrolliert wie er, haben aber enorm viel Einfluss auf den Fortgang der postindustriellen Gesellschaft. In der Forschung verbirgt sich, weitgehend unerkannt, der wichtigste Machtfaktor unserer Zeit. Das hat der französische Wissenschafts- und Techniksoziologe Bruno Latour in einen einprägsamen Satz gekleidet, der den Schlachtruf der US-amerikanischen Revolutionäre gegen die britische Krone aufgreift und weiterspinnt. Statt “No taxation without representation” könnte die Parole des 21. Jahrhunderts “No innovation without representation” lauten, gibt Latour zu bedenken: Kein Innovation ohne Repräsentation!
Das Defizit an Demokratie und Bürgerbeteiligung in der Forschung und deren Anwendung hat die Journalistenvereinigung für technisch-wissenschaftliche Publizistik TELI e.V. im Bundeswahlkampf 2009 mit einer Wissenschaftsdebatte beantwortet. Sie vernetzte in wichtigen Forschungsfragen wie Schwerpunkten und Etats, Ethik und Nachhaltigkeit die Forscher und Forschungsgesellschaften mit Politikern sowie Vertretern der Zivilgesellschaft. Als nicht länger hinnehmbar deckte die TELI auf, dass die Politiker im Wahlkampf sowie auch im Duell der Spitzenkandidaten Wissenschaft und Forschung so gut wie gar nicht ansprachen: das in einem Land, dessen größter Rohstoff die Wissensproduktion ist!
Das soll sich jetzt im Bundeswahlkampf 2013 ändern. Der Journalistenverband will die Beteiligung von Bürgern an großen forschungspolitischen Entscheidungen auf die Agenda setzen, interaktiv und virtuell im Netz sowie von Person zu Person auf Veranstaltungen, verstehbar, transparent, nicht zuletzt kurzweilig und unlangweilig. Forschungskrimis im Wettlauf um neue Erkenntnisse, das Ringen um Geldmittel für Forschungsprojekte sowie der Akzeptanzbeschaffung dafür in der Öffentlichkeit macht Forschung eigentlich so spannend wie Elf-Meter-Schießen.
Um den Bogen abschließend noch einmal ganz weit zu spannen: Saul Alinsky’s Community Organizing interpretiere ich, in moderner Form, als eine Lebenshaltung, im Kern befasst mit pro-aktiver Ausgestaltung des Machens, und zwar auf vielen Ebenen des gesellschaftlichen Miteinanders. Von Anfang an zog Alinsky, wie in Chicagos Schlachthofviertel, Sportvereine in seine Organisationen ein. Sie sind Urzellen der Zivilgesellschaft, Trainingsplätze der Demokratie und Beteiligung.
Ein Beispiel aus dem Rudersport. Bei der Ausbildung und im Training herrscht oft das Befehlsprinzip, was die Mannschaft entmachtet und zu willenlosen Robotern macht. Steuerleute, die jeden Ruderer einbeziehen, sie gewähren lassen, aber dennoch sagen, wo es lang geht, notfalls auch sehr direkt, holen mehr aus dem Boot heraus. Die Führungsformen von Oben-nach- Unten und Unten-nach-Oben müssen sich in einer feinen Balance auspendeln, die viel Raum für Motivation und Selbstbestimmung für alle Beteiligten lassen. Das alles wussten bereits die Griechen, als sie mit freien Bürgern als Ruderer die persische Weltmacht besiegten, die sich Sklaven bediente. Freiheit war die Wiege des Abendlandes. Letztlich stehen wir mit Saul Alinsky in der langen Tradition unserer Kulturwerte und deren Vermächtnis.
Neu erfinden müssen wir das Rad nicht. Manchmal sind die größten Propheten die eigenen, nur keiner hört sie. Erinnern wir uns, wie schrieb der Sozialpädagoge Norbert Herriger?
Soziale Arbeit muss Menschen zu den Regisseuren ihrer eigenen Biografie machen!
Autor
Wolfgang C. Goede, gelernter Politologe M.A. und Kommunikationswissenschaftler,ist internationaler Wissenschaftsjournalist, Moderator, Coach. Mit Partizipation und Selbst-Ermächtigung, auf breiter Basis, hat er sich in vielen Veröffentlichungen auseinandergesetzt. Zu dem Thema bietet er regelmäßig Seminare an.
Quellen:
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Campaign For Human Development: Empowerment & Hope. 25 Years of Turning Lifes around. United States Catholic Conference, Washington D.C. 1996
Capraro, James F.: Community Organizing + Community Development = Community Transformation, in: Journal of Urban Affairs, Chicago 2004 http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/j.0735-2166.2004.00193.x/abstract
Gaudette, Tom: Good Stories and Hard Wisdom, in: Knoepfle, Peg: After Alinsky: Community Organizing in Illinois. Springfield 1990
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